Es gab diese Szene vor wenigen Wochen im ARD-Studio, nach dem Halbfinal-Aus des FC Bayern München im DFB-Pokal gegen Borussia Dortmund. Philipp Lahm tauchte noch in Trikot und Stutzen auf zum Interview. Er wirkte klein und zerbrechlich dabei wie selten und es schien fast denkbar, dass er gleich losheulen würde.
Natürlich war Lahm körperlich erschöpft nach einem intensiven Spiel. Und ungewohnte, entscheidende Fehler hatte er auch gemacht. Es schien aber eher, als könne er die riesige Enttäuschung, das letzte Spiel seiner Karriere nun nicht in Berlin bestreiten zu können, gerade schwer verkraften.
Aber dann kam die erste Frage, und es war wie immer: Philipp Lahm funktionierte auf Knopfdruck. Diplomatische Antworten, freundlich-distanzierter Tonfall. Nichts verriet, wie es wirklich in ihm aussah. „Ich glaube, dass ich schon immer sehr sachlich und analytisch war. Emotionen schiebe ich eher beiseite“, sagte Lahm einmal dem „SZ-Magazin“.
Ganz am Ende des Interviews gelang es dem ARD-Experten Mehmet Scholl, früher auch beim FC Bayern, doch, Lahm ganz kurz aus der Fassung zu bringen. Mit einer Schmeichelei: In 75 Prozent seiner Spiele sei er überragend gewesen, gab ihm Scholl mit auf den Weg in die Kabine und den baldigen sportlichen Ruhestand. Der Rest sei Weltklasse gewesen. Lahm lachte.
Einer der besten Außenverteidiger der Welt
Eine Dekade lang war Philipp Lahm, ein gebürtiger Münchner aus dem Stadtteil Gern, einer der besten Außenverteidiger der Welt. Erst auf der linken, dann auf der rechten Seite. Mit präzisem Stellungsspiel, solider Zweikampfführung, zielgerichteten Flankenläufen und nur ganz seltenen schwächeren Tagen. Dass noch heute im kollektiven Gedächtnis verbleibt, wie Lahm im EM-Finale 2008 gegen Spanien das Laufduell gegen Fernando Torres verlor und der das entscheidende Tor schoss, ist ziemlich ungerecht für einen, der zurecht „Mr. Fehlerlos“ genannt wurde.
Pep Guardiola gebührt das Verdienst, Lahms immenses Spielverständnis auch im Zentrum des Geschehens genutzt zu haben. Als er 2013 nach München kam, erfand der katalanische Trainer Lahm im letzten Drittel von dessen Karriere noch einmal neu. „Er ist der intelligenteste Spieler, den ich kennengelernt habe“, sagte Guardiola über Lahm, dem das neue, abwechslungsreichere Aufgabengebiet sichtlich Spaß bereitete. Bundestrainer Joachim Löw machte sich den neuen Lahm gegen alle Diskussionen bei der WM 2014 im Mittelfeld zunutze. Erst ab dem Halbfinale gegen Brasilien machte Lahm Platz für den genesenen Bastian Schweinsteiger und kehrte auf die Rechtsverteidiger-Position zurück. Klaglos, im übrigen.
Nur ein Sieg in der Königsklasse zu wenig
Der Gewinn des Weltmeistertitels war der eine große Höhepunkt in Lahms Karriere, der Gewinn der Champions League ein Jahr zuvor der andere. Nicht nur nach seinem Geschmack war ein Titel in der Königsklasse für die Bayern in seiner Zeit zu wenig, auch wenn er häufig darauf hingewiesen hat, wie eng es in der Leistungsspitze nun mal zugehe. Viermal kam in den letzten acht Jahren das Aus für die Münchner im Halbfinale, nur in Lahms letzter Saison war gegen Real Madrid schon im Viertelfinale Schluss.
2010 gegen Inter Mailand und 2012 gegen den FC Chelsea wurden zwei Endspiele verloren.
Das im Elfmeterschießen vergebene „Finale dahoam“ gegen den Londoner Klub war auch für Lahm besonders schwer zu verkraften. Er habe eines seiner besten Spiele überhaupt gemacht, sagte er, aber es habe trotzdem nicht gereicht. „Wir Sportler befinden uns in einer ständigen Abhängigkeit von Zufällen, von Dingen, die wir nicht beeinflussen können – manches ist einfach auch Glück“, sagte Lahm der „Zeit“. Aber ein Jahr darauf kamen er und die Bayern zurück. Im Endspiel in Wembley schlugen sie den großen nationalen Rivalen Borussia Dortmund und holten mit Trainer Jupp Heynckes das erste Triple der Vereinsgeschichte.
Die Binde nicht mehr hergegeben
Seit der WM 2010 war Lahm Kapitän der Nationalmannschaft. Er übernahm die Binde als Vertreter des verletzt ausgefallenen Michael Ballack und tat schon während des Turniers in Südafrika kund, er würde sie ungern wieder abgeben. Das sorgte für Aufsehen, so viel Durchsetzungsvermögen hatte ihm bis dahin kaum jemand zugetraut. Viele fanden sogar, er habe die alternde Ikone Ballack eiskalt abserviert. Lahm erklärt sein Verhalten heute so, dass er einfach zu viele positive Reaktionen aus der Mannschaft auf seinen kooperativen Führungsstil erhalten habe, um wieder aufzuhören.
Ballack warf Lahm und Löw ein abgekartetes Spiel vor. Zu Ballacks Abschiedsspiel ist Lahm dann trotzdem gekommen.
Selbst abserviert zu werden, das hat Philipp Lahm mit seiner strikten Karriereplanung verhindert. Schon am Morgen nach dem durch Mario Götzes Tor in der Verlängerung gewonnenen WM-Endspiel gegen Argentinien erklärte er Löw beim Frühstück seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Den hatte er für sich schon im Herbst zuvor beschlossen – unabhängig vom Turniererfolg. Kurz nach der triumphalen Rückkehr in die Heimat wurde seine Entscheidung öffentlich und sorgte für einen kleinen Kater im nationalen Hochgefühl. Lahm war damals erst 30. Doch seine Begründung nötigte Respekt ab. Er wolle sich nicht vom Leistungssport treiben lassen, „mein Leben gehört mir“. Er wolle Entscheidungen treffen, „bevor sie mich einholen“.
In diesem Sinne handelte Lahm auch, als er in diesem Februar sein vorzeitiges Karriereende zum Saisonende bekannt gab. Wieder ein selbstbestimmter Rückzug, und nicht einmal die gemeinsame Presseerklärung gönnte er dem FC Bayern, zu dem er als elfjähriger Bub gekommen und dessen Kapitän er seit 2012 war. Mancher fand das komisch, die „Welt“ bezeichnete Lahm gar als den „König der Ich-AGs“.
Sein Vertrag wäre eigentlich noch bis Mitte 2018 gelaufen. Er erläuterte, gerade als Kapitän sei es für ihn sehr wichtig, in jedem Training und in jedem Spiel Top-Leistung abzurufen. Doch das könne er über die laufende Runde hinaus körperlich keine weitere Spielzeit lang schaffen. Sicher ein Grund: Unter Trainer Carlo Ancelotti war Lahm fest auf die defensive Außenbahn zurückversetzt worden. Die ständigen Sprints den Platz hinunter und zurück stecke er nicht so ohne weiteres mehr weg, deutete er an.

Erreicht hat er alles, nur Fußballer des Jahres ist er in Deutschland seltsamerweise nie geworden. Manuel Neuer wurde gleich zwei Mal gewählt, dazu Franck Ribéry, Arjen Robben, Bastian Schweinsteiger und Jérôme Boateng – Lahm aber nicht. 2004 war er mal Zweiter. Die Bayern-Fans haben ihn respektiert, geliebt wurden andere mehr.
Die achte und letzte Schale
Vielleicht ernennen sie ihn trotzdem noch zum Fußball-Gott, wenn Lahm am Samstag mit dem Münchner Bundesliga-Heimspiel gegen den SC Freiburg abtritt. Es gibt noch einmal die Meisterschale, zum achten und letzten Mal für ihn, der Rahmen wird also schön sein. Lahm geht mit erst 33 Jahren, noch immer als Weltklasse-Spieler. Andere agierten da unglücklicher. Wegbegleiter Bastian Schweinsteiger beispielsweise, der sein Nachlassen nicht wahrhaben wollte, erst bei Manchester United im Abseits landete und nun in Chicago noch ein bisschen kickt.
So etwas kommt für Lahm nicht infrage. Genauso wenig, wie es denkbar ist, dass er einen Job als Fachmann bei einem Fernsehsender annehmen wird. Irgendwann wird er aber im Management des FC Bayern auftauchen. Für ihn sei das klar, sagte er. Es gab das Angebot des Klubs, die zu besetzende Position des Sportdirektors zu übernehmen. Wie es aussieht, lehnte Lahm das ab, weil er gleich einen Vorstandsposten haben wollte. Das habe der Aufsichtsrat des FC Bayern aber bereits im letzten Jahr verweigert, berichtete Bayern-Präsident Uli Hoeneß.
Vermutlich ging den Aufsichtsräten der Wechsel von den kurzen Hosen in den Businessanzug zu schnell. Vielleicht ging es auch Hoeneß zu schnell, dem Lahm in früheren Jahren manchmal ein ganzes Stück zu selbstbewusst war. Lahm sagte, er hätte ohnehin nicht vor dem 1. Januar 2018 anfangen wollen, die nötige Einarbeitungszeit hätte er also gehabt. Trotz des gescheiterten ersten Versuchs versichern Hoeneß und Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge, die Tür für Lahm beim FC Bayern stünde weiter offen.

Man darf sicher sein, dass er sich auf seine Rückkehr in den Klub gewissenhaft vorbereiten wird. Schon jetzt ist er als Unternehmer tätig und hat sich ein Portfolio von Firmen aufgebaut, mit deren Werten er sich identifizieren kann. Bei dem Müsli-Produzenten Schneekoppe ist er ebenso Gesellschafter wie bei dem Sportpflegeprodukte-Hersteller Sixtus und bei Danova, einem Anbieter von betrieblicher Gesundheitsvorsorge. Es geht ihm dabei nicht nur um stille Teilhabe, Lahm will sich unternehmerisches Wissen aneignen.
Das zweite Kind ist unterwegs
Wie geht es privat weiter mit Philipp Lahm? Er hat mehr Zeit für Sohn Julian und Frau Claudia, die allenfalls beim Oktoberfestbesuch des FC Bayern mal in der Öffentlichkeit aufgetaucht sind. Das zweite Kind ist unterwegs, es soll ein Mädchen werden. Aus Lahms Privatsphäre ist wenig bekannt. Was er liest, welche Musik er hört, welche Filme er gerne ansieht? Das wissen nur direkte Bekannte.
Fit halten, das verriet er kürzlich dem „Stern“, will er sich mit Tennis und Golf. Von Jogging und Fitness-Studios hält er privat weniger. Der erste Urlaub nach dem Karriereende werde nicht länger ausfallen als in den Jahren zuvor. Eine Weltreise beginne bei ihm in München und ende am Tegernsee, witzelte Lahm. Dort hat er sich vor einigen Jahren ein Haus gekauft und umgebaut. Manuel Neuer, sein bester Freund in der Mannschaft neben Thomas Müller, wohnt ganz in der Nähe. Einer von beiden wird der neue Bayern-Kapitän werden.
Zur Person
Philipp Lahm, geboren am 11. November 1983 in München 331 Bundesliga-Spiele für Bayern München von 2005 bis 2017 mit 12 Toren; 53 Bundesliga-Spiele für den VfB Stuttgart von 2003 bis 2005 (2 Tore); 113 Länderspiele für Deutschland mit 5 Toren
Erfolge: mit der Nationalelf Weltmeister 2014, WM-Dritter 2006 und 2010, EM-Zweiter 2008. Mit Bayern München Champions-League-Sieger 2013, Fifa-Klub-Weltmeister 2013, acht Mal deutscher Meister und sechs Mal DFB-Pokalsieger. Quelle: transfermarkt.de