Sein Blick geht nach vorn, sagt er. Aber manchmal, „wenn ich allein bin oder im Bett liege“, dann schleichen sich die Gedanken natürlich zurück. Zurück zu diesem Montagabend des 21. Januar. Zurück in die Kölnarena. Zurück zum Hauptrundenspiel Deutschland gegen Kroatien bei der Handball-Weltmeisterschaft. Es lief die neunte Minute, als Martin Strobel sich im Angriff ohne Fremdeinwirkung das linke Knie verdrehte und mit verzerrtem Gesicht zu Boden ging. „In einer Bewegung, die ich in meinem Leben schon unzählige Male gemacht hab. Plötzlich hab ich einen großen Schmerz im Knie gespürt. Ich wusste sofort: Das Turnier ist für mich beendet, da ist mehr kaputt.“
Ziemlich alles ist kaputt im Knie
So ziemlich alles nämlich. Das vordere Kreuzband, das Innenband, auch Knorpel haben Schaden genommen. Martin Strobel humpelt mit Krücken in der Physiotherapie-Praxis von Wolfgang Kremer-Jung umher, den er seit der Jugend bei seinem Heimatverein Balingen-Weilstetten kennt. Es ist ein sonniger Tag in der 34 000-Einwohner-Stadt am Rand der Schwäbischen Alb, dreieinhalb Wochen nach diesem dunklen Montag. „Den Umständen des Knies entsprechend geht es mir gut“, sagt Strobel, als er sich auf einer Liege langgemacht hat und von Kremer-Jung eine Lymphdrainage bekommt. „Der Bluterguss ist weg, die Schwellung geht auch zurück, langsam erkenne ich das Knie wieder.“
So leise so präsent
Sich mit Martin Strobel in einem Raum aufzuhalten, ist wie an einem See zu sitzen und sich zu fragen, wie tief stille Wasser wirklich sind. Er strahlt eine souveräne Ruhe aus, auch Reife und Reflektiertheit. Nicht viele Menschen sind so leise so präsent.
Wie in einem Freifallturm auf dem Jahrmarkt
„Das Risiko, dass so etwas passiert, ist immer da, das weiß man“, sagt er an diesem Nachmittag recht nüchtern mit der Erfahrung eines Leistungssportlers im Alter von 32 Jahren. „Und es gibt keinen guten Moment dafür.“ Auf einem Höhepunkt der Karriere wie in einem Freifallturm auf dem Jahrmarkt auf den Tiefpunkt zu stürzen aber ist definitiv ein besonders schlechter. Das weiß er auch. „Es war irreal, da vom Feld getragen zu werden, während die Zuschauer meinen Namen gerufen haben.“ Spätestens seit diesem Moment kennen Millionen von Menschen den Mittelmann, dessen WM-Nominierung als Zweitligaprofi selbst Experten mit Skepsis kommentiert und auch kritisiert hatten – um ihn nach dem Aus als unterschätzten und tragischen Helden zu feiern.
„Das war schon ein Wechselbad der Gefühle“, gesteht der Schwabe, der nach dem Europameistertitel und Olympia-Bronze 2016 seine Karriere in der DHB-Auswahl eigentlich für beendet erklärt hatte – bevor Bundestrainer Christian Prokop ihn für das Heimturnier reaktivierte. Aus Gründen: Mit nunmehr 147 Länderspielen verfügt er über immense internationale Erfahrung als Spielmacher. „Ich habe die Kritik im Vorfeld nicht zu nahe an mich rangelassen, sondern mich auf meine Aufgabe konzentriert“, erklärt Strobel.
Schnell der Anführer
Die er mit Bravour erledigte. „Wie schnell es Martin geschafft hat, in der Nationalmannschaft der Anführer zu werden, sagt viel aus über seine Stärke, die es ist, seine Nebenleute besser zu machen – aber auch über die Stärke der zweiten Liga“, meint sein Vereinstrainer Jens Bürkle, bis 2015 bei der DJK Rimpar Wölfe, der nun im Aufstiegskampf auf den Regisseur verzichten muss. „Martin hat dem Spiel Struktur gegeben. Und er hat sich bei der WM so präsentiert, wie er ist: extrem verlässlich.“
Kollegen zu Tränen gerührt
Dass er sich in der Nacht nach dem MRT und der Schockdiagnose persönlich von seinen Kollegen im Hotel verabschiedete und mit seinen Worten manche zu Tränen gerührt haben soll, hat ihm mindestens so viel Respekt eingebracht wie seine tadellose sportliche Leistung. Ein Gefühl der Genugtuung, es Skeptikern gezeigt zu haben, empfindet er jedoch nicht. „Das ist nicht meine Art. Mir tat es gut, dass ich zum Erfolg der Mannschaft beitragen konnte.“ Als solchen wertet Strobel auch den vierten Rang. „Wir haben auf jeden Fall gezeigt, dass wir wieder in der Weltspitze mitmischen können.“
Es bleibt auch Ungewissheit
Was bleibt ihm von dieser WM außer der „Erinnerungen an die Euphorie in den Arenen, an die emotionalen Momente vor dem Einlaufen und während 20 000 Menschen die Nationalhymne gesungen haben“ – und dem kaputten Knie, das er täglich vorsichtig bewegt? Seine Beine baumeln dafür in an Seilen befestigten Schlaufen – „Bewegung für die Gelenke ohne Belastung fürs Knie“, erklärt Physiotherapeut Kremer-Jung. Es bleibt auch die Ungewissheit, wie es weitergeht mit Strobels Karriere. Und ob überhaupt.
Ziel: Gesund werden und wieder Handball spielen
„Mit Christian Prokop habe ich vereinbart, dass wir in Kontakt bleiben“, berichtet der gebürtige Rottweiler, „aber über meine Zukunft in der Nationalmannschaft mache ich mir gerade keine Gedanken. Mein primäres Ziel ist es, gesund zu werden und überhaupt wieder Handball zu spielen. Dafür gebe ich so schnell nicht auf.“ Jörg Richter, der behandelnde Arzt in der Orthopädischen Klinik Markgröningen, hatte sich nach der OP im Interview mit der „Heilbronner Stimme“ optimistisch geäußert: „Ich bin zuversichtlich, dass er in der nächsten Saison wieder im Handballbetrieb dabei sein wird.“
Planspiele für die weitere Zukunft
Strobel will alles für sein Comeback tun. Doch so ehrgeizig er ist – er ist auch „Realist“ und weiß: „Ich bin in einem Alter, in dem ich mir sowieso Gedanken machen muss, wie es später beruflich weitergehen soll.“ Der verheiratete Vater eines Sohnes hat 2015 ein Fernstudium in Internationalem Management in Ansbach mit dem Bachelor abgeschlossen, er könnte sich vorstellen, einen Master in internationalem Sportmarketing anzuschließen und die Theorie später mit der Erfahrung von fast 20 Jahren Praxis zu kombinieren, in welchem Umfeld auch immer.
Kein Nest in der Komfortzone
Es muss nicht bei seinem Heimatverein sein, wo er abgesehen von fünf Jahren beim TVB Lemgo seine gesamte Profikarriere verbracht hat und wo sein Bruder Wolfgang Geschäftsführer ist – selbst ehemaliger Handballprofi und damals in einer Mannschaft mit ihm, Bürkle und Daniel Sauer, dem Vorstandsvorsitzenden der Würzburger Kickers. Er fühle sich wohl in der Heimat, versichert Martin Strobel, aber er habe keinesfalls vor, sich einzunisten in der „allseits bekannten Komfortzone“. Ein Wort, das er fast verächtlich ausspricht. „Daraus muss man ausbrechen, man muss sich immer neu fordern.“ Welche Wertschätzung er beim HBW allerdings genießt, zeigte sich am vergangenen Samstag, als ihn die Zuschauer in der Arena vor dem ersten Heimspiel 2019 in blauen T-Shirts mit der Aufschrift „#come back stronger“ und stehenden Ovationen empfingen.
Der Blick geht nach vorn
Ob er Angst hat, dass ihn sein Knie ganz in die Knie zwingt, sprich: zu einem unfreiwilligen Karriereende? „Nein, Angst nicht. Aber natürlich wäre es schade.“ Schließlich habe der Handball mehr als die Hälfte seiner Vita geprägt. „Gerade das vergangene halbe Jahr hat mir riesigen Spaß gemacht. Und die WM hat mir so viel fürs Leben gegeben.“ In Martin Strobels Blick zurück spiegelt sich Dankbarkeit wider. Aber jetzt geht sein Blick nach vorn.