Das hier ist ziemlich weit weg von Amerika. Vom pulsierenden Orlando oder von Tampa am Golf von Mexico, wo der weiße Sand die Wellen verschluckt. Das hier ist Wolfsburg, und Julian Draxler würde das Wetter an diesem Novembermorgen wahrscheinlich als Synonym hernehmen für die VW-Stadt. Neblig. Eisiger Wind. Nieselregen. Nix wie weg. Marcel Schäfer tickt da anders. Der 32-Jährige aus dem unterfränkischen Straßbessenbach ist für den VfL Wolfsburg so etwas wie der Käfer für VW – ein Dauerbrenner. Der Linksverteidiger ist mit 256 Bundesliga-Einsätzen der Rekordspieler des Klubs, für den er seit knapp zehn Jahren aktiv ist. „Ich fühle mich superwohl hier“, sagt Schäfer, „meine Kinder sind hier geboren, und die Stadt bietet unheimlich viel für Familien“.
An diesem Morgen weiß er noch nicht, dass sich in Wolfsburg die Abstiegsgefahr verschärfen, dass der neue Trainer Valérien Ismael schon wieder in Frage stehen, dass Manager Klaus Allofs gefeuert und dass er sich selbst im Spiel gegen Bayern München einen Innenbandriss zuziehen wird, der ihn zu einer sechs- bis achtwöchigen Pause zwingt.
Das Training an diesem Novembertag ist hart. Laufintensiv. Hoher Puls. Viele Sprints Mann gegen Mann. Marcel Schäfer verliert keinen einzigen. Das ist die Krux im endlichen Leben eines Leistungssportlers an der Schwelle zum Karriereende: „Ich fühle, dass ich noch richtig mithalten kann“, sagt der Abwehrspieler, aber der Trainer sieht das anders. Die Konsequenz daraus heißt Ersatzbank.
Die Scheinwelt Fußball
Jetzt aber sitzt Marcel Schäfer erst mal im Ritz Carlton von Wolfsburg und bestellt zwei von beiden Seiten gebratene Spiegeleier und Naturjoghurt mit Blaubeeren. Wie ist das, wenn einem dräut, dass es langsam vorbei ist mit dem Traumjob? „Es ist natürlich ein Privileg, mit dem, was man liebt, viel Geld zu verdienen. Aber Fakt ist auch: Unser Berufsleben ist begrenzt.“ Deshalb hat er sich frühzeitig Gedanken gemacht über das, was nach dem Sport kommen soll. „Es ist das große Problem von vielen Fußballspielern: Irgendwann hören sie auf und sind plötzlich raus aus dieser Scheinwelt.
“ Er spricht tatsächlich von Scheinwelt, später auch mal von unglaublich viel Geld, und das zeugt dann doch von einer Bodenhaftung, die vielen Profis abhanden geht. In der Wirtschaft seien 15 Jahre als Profi keine Referenz, sagt Schäfer. Sportliche Kompetenz sei wichtig, „aber es ist nicht das Entscheidende“.
Viele Profis würden sich schwer tun, einen Schritt zurückzugehen. Neu anzufangen. Mal ein Praktikum auf eigene Kosten zu machen. Nicht für die Kahns, die Götzes, „aber für 90 Prozent geht es bei null los. Viele müssen sich neuen Herausforderungen stellen, und das vielleicht zu einem Ausbildungsgehalt. Daran scheitern viele.“ Er selbst sieht seine Zukunft klar. Er hat ein Ziel. „Ziele sind wichtig“, sagt Schäfer, „wer keine hat, kann keine erreichen“. Als Kind wollte er immer Bundesliga spielen. Als er das geschafft hatte, wollte er Nationalspieler werden. Auch das hat er geschafft. Acht Länderspiele unter Joachim Löw.
Es war die beste Zeit des Linksverteidigers Marcel Schäfer, die Zeit, in der der VfL Wolfsburg 2009 deutscher Meister wurde und in der der Kämpfer in der DFB-Elf mal als Pendant zu Philipp Lahm galt. Er hat sich oft gefragt, was damals nach dem großen Erfolg schief gelaufen ist, warum es für ihn eine Zeit lang bergab ging, warum ihn der Bundestrainer kurz vor der WM 2010 in Südafrika aussortierte.
Heute sagt er: „Ich war zu ehrgeizig. Ich war im Tunnel und glaubte, den Erfolg toppen zu müssen. Mir wurde erst später bewusst, wie schwer es ist, Meister zu werden in einer Mannschaft, die nicht Bayern München heißt.“ Marcel Schäfer biss sich durch, er wurde zur Konstante beim VfL, und jetzt, wo jedes Spiel das letzte sein könnte, da hat er eben wieder ein Ziel: Irgendwann im Management zu arbeiten.
Der 32-Jährige hat Abitur
Der 32-Jährige hat Abitur und in den vergangenen Jahren am Sportbusiness Campus eine Weiterbildung im Bereich „Fußball Management“ erfolgreich abgeschlossen. In Zusammenarbeit mit der privaten Bildungseinrichtung wurde auf dem VfL-Gelände ein Campus mit eigenen Dozenten eingerichtet, Marcel Schäfer war der erste Profi, der sich angemeldet hat.
Direkt aus der Dusche ging es zur Vorlesung, „die Möglichkeiten hier sind sensationell“. Sein Vertrag läuft Ende Juni 2017 aus. Dann ist Schluss mit Bundesliga. Mit dem VfL Wolfsburg gibt es die Vereinbarung, dass er ins Management des Bundesligisten einsteigen kann. Doch zuvor plant der Vater von drei Kindern mit seiner Familie eine Auszeit. Der USA-Fan wollte zum Abschluss seiner Karriere noch ein, zwei Jahre in der Major League Soccer spielen. So lautete der Plan zumindest vor der Präsidentenwahl in den Staaten. „Es war immer ein Traum von meiner Frau und mir, mal eine Zeit lang in den USA zu leben“, sagt Schäfer. Er möchte sein Englisch verfeinern, Spanisch dazulernen. Doch die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten hat vieles verändert. „Ja, das hat mich nachdenklich gemacht. Denn im Wahlkampf waren Werte von Bedeutung, die mit meinen nicht übereinstimmen“, sagt Schäfer. Amerika sei für ihn immer ein Land gewesen, das für Toleranz, Weltoffenheit und eine Kultur des Willkommenseins gestanden habe. Jetzt steht vieles in Frage. Vielleicht zieht es ihn nach Australien oder Japan.
Ganz ist Amerika noch nicht abgehakt. Das Land reizt die Schäfers zu sehr, gerne würde der Basketballfan auch ein, zwei Praktika bei einem NBA- oder Baseball-Klub machen. Kommen wird die Auszeit in jedem Fall. Viele haben ihm dazu geraten, auch Frank Baumann. Der Würzburger spielte ebenfalls zehn Jahre bei einem Klub: Mit Werder Bremen wurde er Deutscher Meister und Pokalsieger – wie Schäfer. Heute ist er dort Manager. „Er hat mir gesagt, dass ich Energie tanken und erst dann zurückkommen soll“, so Schäfer, der auch findet, dass Distanz wichtig ist, weil er dann ja nicht mehr auf der Seite der Spieler stehen wird so wie jetzt.
Ausflug in die Wirtschaftswelt
Einen erfolgreichen Ausflug in die Wirtschaftswelt hat Marcel Schäfer auch bereits hinter sich. Er gründete die Firma MS4 Sports GmbH, die Freunde Christian Träsch (VfL Wolfsburg), Daniel Baier (FC Augsburg) und Christian Gentner (VfB Stuttgart) sind Teilhaber.
Die Firma hat im Sommer eine kostenlose App mit dem Namen DeinTeam auf den Markt gebracht, mit der Sportmannschaften besser gemanagt werden können: Mannschaftskasse, Tippspiel, Termine – alles ist bequem und transparent zu koordinieren.
Auf über 400 000 Downloads kommt der digitale Helfer bereits, sagt Schäfer und wischt begeistert über sein Smartphone. „Auch viele Teams aus dem Raum Würzburg sind schon dabei.“ Die Idee kam ihm, als er seinen Sohn einmal zu spät zum Fußballtraining brachte, weil der Vater eine WhatsApp im täglichen Nachrichten-Tsunami übersehen hatte. Die Entwicklung der App von IT-Profis hat die Firma ebenso bezahlt wie die marktreife Umsetzung. „Das war ein richtiger Batzen Geld“, sagt Schäfer, „aber es war auch eine wertvolle Erfahrung.“
Der Erfolg wirft Fragen auf: Kommt eine englische Version für den internationalen Markt? Welcher Support wird benötigt? Wie viele Angestellte? Büroräume? „Langsam denken wir darüber nach, uns einen strategischen Partner ins Boot zu holen“, sagt Schäfer. Sportartikelhersteller hätten schon Interesse bekundet. „Wichtig bleibt, dass die User einen Mehrwert haben müssen.“ Es gibt Gewinnspiele, Treffen mit den Profis oder Teamoutfits werden verlost. „Ich möchte nicht erst drei Werbevideos anschauen müssen, ehe die App genutzt werden kann.“
Der Teller im Ritz ist leer. Bald steht die zweite Trainingseinheit des Tages an. Eine Frage ist übrig. Hat er etwas bereut? Marcel Schäfer muss nicht lange überlegen. „Man bereut nur, was man nicht gemacht hat.“ Zu Manchester City, zu Bayern München, da ist er ehrlich, wäre er gegangen. „Das musst du machen als Profi. Aber die Situation hat sich nie ergeben.“ Andere Angebote gab es dagegen schon, aber der Verteidiger hat sich bewusst für Wolfsburg entschieden. Ihm kommt der 14. Mai 2011 in den Sinn, der Tag, der ihm die vielleicht emotionalsten Momente seiner Karriere bescherte. Es ist der letzte Spieltag der Saison, der abstiegsgefährdete VfL Wolfsburg muss bei der TSG Hoffenheim spielen.
Zu Beginn der zweiten Hälfte schießt Hoffenheim die Führung. „Was da in einem vorgeht, ist extrem“, sagt Schäfer, „es geht ja um Existenzen“. Am Ende siegt Wolfsburg 3:1. Gerettet. „Ich will nicht sagen, dass mir die Erfahrung gutgetan hat, aber sie hat mich geprägt und zur Identifikation beigetragen.“
Leitfigur beim VfL Wolfsburg
Er ist beim VfL zu einer Leitfigur geworden in all den Jahren, zum Publikumsliebling. Immer wenn ein Thema eskaliert, moderiert Marcel Schäfer den Dialog mit den Fans. Er sagt, es sei schön, ein Teil dieser Mannschaft zu sein, „da muss ich auch mal persönliche Interessen hinten anstellen, auch wenn ich nicht zu erzählen brauche, was in mir vorgeht, wenn ich mir im Training den Hintern aufreiße und wieder nicht spiele“.
Er wird nicht wechseln in der Winterpause, dazu sei die Verantwortung gegenüber seiner Familie und dem Verein zu groß. Er wird es zu Ende bringen. Er wird hinausfliegen in die Welt. Und dann wird er zurückkommen. Neulich hat der Profi mit einem Kollegen telefoniert. Auch der steht an der Schwelle zum Leben danach. Er war ein Fußballtramp, hat in vielen Vereinen gespielt. Am Ende hat er einen Satz gesagt, der Schäfer nachdenklich gemacht hat: „Ich bin nirgends daheim.“
Da spürte der Wolfsburger, dass er vieles richtig gemacht hat.