Sie war „gerade aus den Windeln raus“, übte im heimischen Garten im Lohrer Fischerviertel, mit einem Handball aufs Tor zu werfen, und freute sich auf ihr erstes Pfingstturnier mit den Minis des TSV, da nahm ihre Mutter sie zur Seite. „Mia“, riet die ehemalige Spielerin und spätere Trainerin ihrer Tochter, „du darfst den Ball nicht in die flache Hand legen, sonst schlagen ihn dir deine Gegner weg.“ Am nächsten Tag beim Turnier schaute Andrea Zschocke der Vierjährigen bei ihrem ersten Spiel zu. Und was machte Mia? Stibitzte einem anderen Mädchen den Ball aus der offenen Hand, rannte damit los und warf ein Tor.
Über die Anekdote, die Andrea Zschocke 16 Jahre später an einem Sonntag Mitte November am Küchentisch im Fachwerkhaus der Familie erzählt und die bezeichnend ist für die Cleverness ihrer Tochter, muss Mia Zschocke schmunzeln. Heute ist sie 20 und als erste Handballerin des TSV Lohr in die Frauen-Nationalmannschaft berufen worden. Bundestrainer Henk Groener hat die Spielmacherin des Bundesligisten Bayer Leverkusen für die verletzte Kapitänin Kim Naidzinavicius ins 16-köpfige Aufgebot für die an diesem Donnerstag beginnende Europameisterschaft in Frankreich nachnominiert.
„Thunderstruck“ vor Spielen Pflicht
„Ich hätte niemals damit gerechnet, dass ich für Kim nachrücke“, sagt die Lohrerin. „Aber jetzt fühlt es sich wie ein erfüllter Traum an.“ Im Kindergartenalter hatte sie ihre Eltern erstmals darüber unterrichtet, dass sie es einmal ins Nationalteam schaffen wolle. Was sie nun tatsächlich dorthin gebracht hat? „Ehrgeiz und Perfektionismus.“
Doch in dem Mädchen, das in der TSV-Jugend auch bei den Jungs mittrainierte, dessen Talent Steffi Placht vom Bayerischen Handballverband früh erkannte und in Auswahlmannschaften förderte, das als Teenager zwischen mehreren Angeboten von Bundesligaklubs wählen konnte und mit 16 von zu Hause auszog, um in Leverkusen in einer Leistungssportler-WG zu wohnen, das kurz vor seinem 18. Geburtstag den ersten Profivertrag unterschrieb und im Deutschen Handballbund (DHB) von der U 17 an sämtliche Jugend- und Juniorenteams durchlief bis zum Kapitänsamt in der U 21 und ihrem Debüt in der A-Nationalmannschaft am 29. September dieses Jahres, schlummert noch eine andere Seite. „Ich bin auch wild und habe vor wenigen Sachen Angst“, sagt Mia Zschocke, und in ihren blauen Augen blitzt Abenteuerlust auf. „Ich habe den Motorradführerschein und bin beim Skifahren über eine Schanze zwölf Meter in die Tiefe gesprungen.“ Ein Video auf ihrem Instagram-Account zeugt davon. Zu dieser Seite passt auch der Song, der auf ihrer Playlist, die sie vor Spielen ritualmäßig hört, niemals fehlen darf: „Thunderstruck“ von AC/DC. „Mia opfert dem Handball viel, aber sie lässt in ihrem Kopf und Herz immer noch Platz für anderes“, sagt ihre Mutter. „Sie weiß, dass allein eine Sportart kein Lebensinhalt sein kann und hinterfragt sich immer wieder.“
Im vergangenen Jahr waren die Fragen zum ersten Mal zu Zweifeln gewachsen, die an der Lohrerin klebten wie Harz an den Händen. „2017 war ich sogar kurz davor, mit dem Handball aufzuhören“, erzählt Mia Zschocke. Der Spaß an der Sportart, die eigentlich „Leidenschaft pur“ für sie bedeutet, war ihr verloren gegangen. „Es war alles so stressig.“ Achtmal in der Woche Training, dazu die Anfänge im Studium der Wirtschaftspsychologie an der Uni Köln, in dem für sie nur Bestnoten zählen. Zudem verlief der Übergang von der Jugend in den Leverkusener Bundesligakader schwieriger als erwartet. „Ich musste mir dort meinen Stellenwert hart erarbeiten.“ Doch sie kämpfte. Und ist heute Führungsspielerin.
Vorbilder: Andy Schmid und Mama
Früher war ihr Vorbild Andy Schmid, der Schweizer Mittelmann der Rhein-Neckar Löwen und viermalige Spieler der Saison in der Bundesliga. Inzwischen sei es ihre Mama, die in Lohr das Familienunternehmen OWI leitet, Zulieferant für die Sitzmöbelindustrie. „Sie hat dank ihrer Führungsstärke viel erreicht“, begründet die Tochter. Wie früher ihre Mutter, so ist auch die 1,78 Meter große Regisseurin besonders abwehrstark. Im Angriff verfügt sie – wie Schmid – über eine hohe Spielintelligenz und ein gutes Auge.
Dass sie eine gute Leistung abgeliefert habe, denke sie dennoch selten. „Ich bin sehr selbstkritisch.“ Den meisten Druck macht sich die 20-Jährige, wenn ihre Eltern zuschauen. Ihr Vater Christoph Zschocke leidet mit ihr: „Ich bin schon auf der Fahrt so aufgeregt, als müsste ich selber spielen, obwohl ich mit Ballsportarten noch nie was am Hut hatte“, gesteht der Designer. Freilich sind alle in der Familie, auch die beiden Brüder (19, 22), sehr stolz auf Mia.
Die EM-Generalprobe hat sie hinter sich. Beim Vierländerturnier im spanischen Alicante, bei der das deutsche Team nach knappen Niederlagen gegen Brasilien (19:20) und Spanien (20:22) am Sonntag zum Schluss Polen besiegte (28:27), kam sie in den ersten beiden Partien auf insgesamt etwa 30 Minuten Einsatzzeit und ein Tor beim Auftakt. „Die Mädels sind sehr lieb und haben mich gut aufgenommen“, berichtet Mia Zschocke von ihren ersten Tagen im Team. Zur EM fahre sie „mit Demut“. „Verstecken will ich mich aber sicher nicht!“
Die Spiele bei der EM
Bei der Europameisterschaft in Frankreich (29.11. – 16.12.) treffen die deutschen Frauen in der schwierigen Vorrundengruppe D in Brest auf Titelverteidiger Norwegen (1. Dezember, 15 Uhr), Rumänien (3. Dezember, 18 Uhr) und Tschechien (5. Dezember, 18 Uhr). Die Spiele sind jeweils live im Internet auf sportdeutschland.tv zu sehen.