Für Gold-Favorit Leo Neugebauer ist bei der olympischen Zehnkampf-Show die Rolle des Hauptdarstellers vorgesehen. Aber auch Ex-Weltmeister Niklas Kaul greift nach seinem mitreißenden Olympia-Drama in Japan nach der ersten deutschen Sommerspiel-Medaille in der Königsdisziplin seit mehr als einem Vierteljahrhundert. „Beim Zehnkampf kann immer alles passieren, unerreichbar ist nichts - aber es wird sehr hart werden”, sagte der deutsche Rekordhalter Neugebauer (24).
Mit 8.961 Punkten führt Neugebauer in der Weltjahresbestenliste, in der gleich zehn Zehnkämpfer mit über 8.500 Punkten stehen. Kaul, der sich 2019 zum jüngsten Weltmeister und 2022 zum Europameister krönte, liegt auf Platz acht. „Vielleicht wird Leo vorneweg sein, aber dahinter wird es noch Medaillen geben, die zu vergeben sind”, prognostizierte Kaul (26).
„Zwei heiße Eisen im Feuer”
Nach der WM-Nullnummer des DLV-Teams vor einem Jahr in Budapest, als Neugebauer im Zehnkampf nach der Halbzeitführung auf Rang fünf zurückfiel und Kaul angeschlagen aufgeben musste, hofft der deutsche Verband zum Auftakt des Leichtathletik-Spektakels im Stade de France auf eine Initialzündung. „Im Zehnkampf haben wir gleich zwei heiße Eisen im Feuer”, sagte Sportvorstand Jörg Bügner. Drei Medaillen sind die DLV-Hoffnung in Paris.
Neben dem Weitsprung mit Allesgewinnerin Malaika Mihambo in der zweiten Olympia-Woche ist der Zehnkampf am Freitag und Samstag die aussichtsreichste Disziplin. Für Neugebauer wäre es „ein Traum, eine olympische Medaille zu bekommen”.
Kaul, der 2021 in Tokio nach seinem Verletzungs-Aus die Hände vor das Gesicht geschlagen in einem Rollstuhl davon geschoben wurde, hegt denselben Wunsch. „Aber dafür muss ich meine Bestleistung liefern, sonst kann ich es knicken”, sagte der angehende Lehrer der Deutschen Presse-Agentur. Platz vier bei der EM war das beste Punkteergebnis seit der Bestleistung beim Titelcoup 2019 in Doha mit 8.691 Zählern.
Erfolg mit besonderer Strahlkraft?
28 Jahre nach Silber durch Frank Busemann in Atlanta soll wieder Edelmetall her. Die Frage, wer König der Athleten wird, elektrisiert. „Ein Erfolg im Zehnkampf wäre wichtig für die deutsche Leichtathletik, weil gerade der Zehnkampf eine besondere Strahlkraft hat”, sagte Zehnkampf-Legende Jürgen Hingsen der Deutschen Presse-Agentur.
Unterschiedlicher könnten die beiden besten deutschen Zehnkämpfer dabei kaum sein. „LeotheGerman”, wie der selbst gewählte Markenname von Neugebauer lautet, zeigt sich gerne bei Instagram, zierte als „Leo Quakgebauer” kürzlich das Cover des Micky-Maus-Magazins. Kaul, der vor Olympia Ellbogen-Probleme hatte, brachte in diesem Jahr das Buch „Die Magie des Zehnkampfs” heraus. Er ist im Vergleich zum in den USA trainierenden Neugebauer ein zurückhaltender Typ. Auch sportlich gibt es Gegensätze.
Widerstände am Tag X
„Meine zwei schwächsten Disziplinen sind seine stärksten”, sagte Neugebauer über die abschließenden Wettbewerbe im Speerwurf und dem 1500-Meter-Lauf. Kaul sicherte sich bei seinem „Gänsehaut”-Wettkampf in München 2022 genau in diesen beiden Disziplinen EM-Gold. Läuft alles normal, führt Neugebauer nach acht Disziplinen aber mit so einem großen Vorsprung, dass es für Gold reicht. Doch wann läuft es in einem Zehnkampf schon normal?
„Selbst wenn man dabei in Topform ist, heißt das nicht, dass man die Bestleistung schafft. Wetter, Tagesform oder andere Umstände spielen am Tag X eine große Rolle. Aber auch das macht den Reiz des Zehnkampfs aus”, warnte der international erfahrenere Kaul. Neugebauer bekam das bei der WM in aller Härte zu spüren. Der Shootingstar posierte für zahlreiche Fotos, jubelte mit den Fans, schrieb dauerhaft Autogramme. An Tag zwei missglückten ihm Hürdenlauf und Diskuswurf - weg war die Medaille.
Hingsen und Busemann glauben an Lerneffekt
„Olympische Spiele sind etwas anderes als Collegemeisterschaften”, sagte Hingsen. Doch Neugebauer habe aus Budapest gelernt. Das sieht auch Busemann so. „Gut, dass er das letztes Jahr bei der WM in Budapest gemacht hat. Das könnte in Paris Gold wert sein”, sagte der 49-Jährige. Dritter deutscher Starter ist dort TIll Steinforth, er ersetzte Manuel Eitel, der wegen einer Corona-Infektion schweren Herzens absagen musste.
Er wolle „die Lockerheit beibehalten, die ich eigentlich immer hab'”, sagte Neugebauer der Deutschen Presse-Agentur. „Dass ich schön einfach das Handy aus habe, meine Regeneration mache, nicht mit zu vielen Leuten rede.” Nach Willi Holdorf 1964 und Christian Schenk 1988 kann er als dritter Deutscher Olympia-Gold gewinnen. Und möglicherweise als erster Deutscher die 9000 Punkte oder noch mehr erreichen. „Er hat das Potenzial, der Beste aller Zeiten zu werden”, sagte Trainer Jim Graham im ZDF.