So etwas nennt man wohl einen klassischen Fehlstart. Niemand hatte am Abend zuvor auch nur ansatzweise damit gerechnet, in den Cafés von Budapest trug die sommerliche Betriebsamkeit bis weit nach Mitternacht mallorquinische Züge. Am Morgen mussten sich die meisten freilich eingestehen, dass sie Regencapes und andere schützende Utensilien in ihrem Reisegepäck schlicht vergessen hatten. Es goss in Strömen, im nagelneuen Leichtathletikzentrum Nemzeti Atlétikai Központ herrschte zeitweilig Land unter, das Unwetter über der ungarischen Hauptstadt hatte sich zum Sturm entwickelt. Und so sahen sich die Organisatoren gezwungen, zum ersten Mal in der 40-jährigen Geschichte der Leichtathletik-Weltmeisterschaften deren offiziellen Beginn um zwei Stunden nach hinten zu verlegen, damit Sportlerinnen und Sportler sowie Zuschauer beim weltweit größten Sportereignis des Jahres halbwegs trockenen Fußes die Wettkämpfe bestreiten und beobachten konnten.
Für Christopher Linke alles kein Problem. Der 34-jährige Geher aus Potsdam fühlt sich durch widrige Umstände eher noch angespornt, nicht ganz zu Unrecht meinend, dass die Konkurrenz damit mehr zu kämpfen habe als er. Als die Nachricht von der Verschiebung bei ihm ankam, blieb Linke cool und legte sich einfach noch mal aufs Ohr. Der "Power Nap" sollte sich als goldrichtig erweisen. Trotz der hohen Luftfeuchtigkeit ging er von Anfang an das schier unglaubliche Anfangstempo, bei dem Hobbyjogger bereits enorme Probleme bekämen, "volle Pulle" mit. "Nach zehn Kilometern habe ich erst einmal den Kanadier neben mir gefragt, ob wir tatsächlich schon bei zehn Kilometern sind. Er meinte: 'Ja.' Dann wusste ich: Oh, das ist hier aber verdammt schnell." So schnell, dass er sich am Schluss sogar über einen neuen deutschen Rekord freuen durfte.
Neuer Rekord, aber keine Medaille
Dass seine neue Bestmarke von 1:18:12 Minuten, die ihm Rang fünf bescherte, allerdings nicht einmal für einen Platz auf dem Treppchen reichte, konnte Christopher Linke kaum fassen. Keine Medaille mit einer solchen Zeit zu holen, das sei "fast ein wenig bitter". Tatsächlich hätte der Rekord außer bei der WM 2003 in Paris immer zu Edelmetall gereicht. Dennoch war der Geher schlussendlich zufrieden, denn immerhin hatte er als Teamkapitän seiner Ankündigung, mit einer starken Leistung zum Auftakt einen positiven Impuls für die weiteren DLV-Starter zu setzen, Taten folgen lassen.
Am Nachmittag fand dann die Eröffnungsfeier statt; mit Trommlern, Tänzern, Düsenjets im Formationsflug, einer patriotisch freundlichen Staatspräsidentin Katalin Novák, einem konzilianten World-Athletics-Präsident Sebastian Coe – und Freddy Mercury, dessen Interpretation des Volksliedes "Tavaszi szél vizet áraszt" (Frühlingswind bringt Wasser) 1986 bei einem Queen-Konzert in Budapest längst Kult geworden ist und auch diesmal über die großen Videoleinwände wieder Begeisterungsstürme auslöste.
Das Sturmtief war da schon längst vergessen, das Stadion schon in den Morgenstunden erstaunlich gut gefüllt, was auf eine vielversprechende Auslastung in den kommenden Tagen schließen lässt, und das Publikum generierte einen Lärmpegel, der dem der Europameisterschaften im vergangenen Jahr im Münchner Olympiastadion kaum nachstand. Und weil in Ungarn vieles anders ist, hatte sich bei der Vorstellung der Kugelstoß-Finalisten, unter denen der amerikanische Weltrekordler Ryan Crouser trotz eines lebensgefährlichen Blutgerinnsels im Bein fast erwartungsgemäß mit 23,51 Metern – nur fünf Zentimeter unter seinem Weltrekord – herausragte, eine Rockband aufgebaut. Die fuchtelte derart wild mit ihren Gitarren herum, dass die starken Männer vorsichtshalber in Deckung gingen. Zum Glück ist nichts passiert.
Drama um niederländische Ausnahmeläuferin
Der kräftige Rückenwind, den Kapitän Christopher Linke für seine Teamkollegen versprochen hatte, erfasste nicht alle. Dreispringer Max Heß, Sprinter Julian Wagner, die beiden jungen Hammerwerfer Sören Klose und Merlin Hummel, Hindernisläufer Karl Bebendorf, 400-Meter-Meister Manuel Sanders, zwei von drei Diskuswerfern sowie 1500-Meter-Läufer Amos Bartelmeyer schieden relativ geräuschlos bereits in ihren Vorrunden aus, während die 4x400-Meter-Mixed-Staffel immerhin den Endlauf erreichte, aber auf Rang sechs nichts mit der Medaillenvergabe zu tun hatte. Dort lieferten sich die USA und die Niederlande ein Drama par excellence, als Wunderläuferin Femke Bol, kurz vor dem Ziel in Führung liegend, stürzte . Die Amerikanerinnen nutzten die Chance und lieferten mit 3:08,80 Minuten den ersten Weltrekord von Budapest ab. Die deutschen Medaillenhoffnungen nähren dagegen weiter die drei deutschen Diskuswerferinnen, die problemlos das Finale erreichen, genauso wie der Münchner Hochspringer Tobias Potye, 400-Meter-Hürden-Talent Joshua Abuaku als Vorlaufsieger und Sprint-Europameisterin Gina Lückenkemper.