Der Gedanke entbehrt nicht eines gewissen Reizes: Ein virtuelles Rennen zwischen Edwin Moses, dem vielleicht besten 400-Meter-Hürden-Läufer aller Zeiten, seinem ewigen deutschen Widersacher Harald Schmid und dem alten und neuen Weltmeister von Budapest, Karsten Warholm. Ein Blick in die Geschichtsbücher verrät, dass Moses 1983 seinen damaligen Weltrekord mit 47,02 Sekunden aufstellte, dem der Gelnhausener Schmid mit 47,48 Sekunden (zwei Mal 1982 und 1987 erreicht) kaum nachstand. Warholm lief am Mittwochabend im Nemzeti Atlétikai Központ-Stadion 46,89 Sekunden, ohne ernsthaft gefordert zu werden. Rund 40 Jahre liegen dazwischen, und die Frage drängt sich auf, ob die Blockbuster der alten Leichtathletik dem Superstar der neuen Generation womöglich ordentlich zusetzen hätten können.
Mit den damaligen Materialien, vor allem dem Schuhwerk, hätte sich Warholm bestimmt schwergetan, seinen Weltrekord von 45,94 Sekunden (2021) in Stein zu meißeln. Gleichwohl: Der Norweger trainiert mindestens ähnlich brutal – manche sagen sogar: unmenschlich – wie ehedem die beiden glorreichen Helden, beginnt um zehn Uhr morgens und „arbeitet“, nur unterbrochen von zwei bis drei Pausen, bis 19 Uhr durch. Dabei belastet er seinen Körper immer wieder bis an dessen Grenze, und schiebt diese sukzessive weiter hinaus. Blocktraining nennt man dies im Fachjargon, freilich eines der Nummer „Hardcore“. Drei Mal pro Woche macht Warholm das, während Moses und Schmid sich stattdessen lieber mit Sprints und Ausdauerläufen bis an die oft zitierte Kotzgrenze quälten.
Leichtathletik-WM: Ein Protest der Italiener wird abgewiesen
Wie dem auch sei: Karsten Warholm ist der Beste und reparierte mit seiner Goldmedaille von Budapest auch seinen Betriebsunfall aus dem Vorjahr, als er wegen einer Verletzung bei der WM in Eugene nur den vorletzten Rang belegte. Allerdings hatte der Dominator nach dem Halbfinale am Montagabend tatsächlich noch ein bisschen zittern müssen. Auf Videoaufnahmen, die in sozialen Netzwerken kursierten, war nämlich klar zu erkennen, dass der 27-Jährige mit dem Schwungbein eine Hürde seitlich überquert hatte – eigentlich ein klarer Regelverstoß. Der italienische Verband, dessen 400-Meter-Hürden-Läufer knapp am Finaleinzug gescheitert war, legte Protest ein, doch angeblich sei der zu spät gekommen, hieß es. Ein Schelm, der Böses dabei denkt: Was wäre ein Final-Spektakel an einem etwas mauen Mittwochabend wie diesem auch ohne eines der aktuellen Gesichter der Leichtathletik gewesen?
„Der Titel bedeutet mir ganz viel“, gab sich Karsten Warholm anschließend demütig. „Es ist schön, wieder vorne zu sein. Im Rennen war ich in der Lage, meine Ruhe und meinen Rhythmus zu behalten. Ich weiß, dass ich die ersten fünf Hürden schneller laufen kann als die anderen. Und dann konnte ich zum Schluss noch mal einen kleinen Turbo zünden.“ Grund genug für den Norweger, in der Nacht noch eine wilde Gold-Party steigen zu lassen. Wenig Anlass zum Feiern gibt es dagegen augenblicklich für die deutschen Leichtathletinnen und Leichtathleten, die auch nach dem Donnerstag immer noch auf die erste Medaille warten. Deshalb greift man gerne die kleinen Lichtblicke wie Joshua Abuaku auf, der es als erster Deutscher nach Harald Schmid wieder in ein WM-Finale über 400 Meter Hürden schaffte (1987 in Rom Bronze), dort aber als Achter in 48,53 Sekunden chancenlos blieb.
Erster Auftritt auf der Weltbühne für Abuaku
Von den Zeiten und den Erfolgen Warholms ist Abuaku noch ein gutes Stück entfernt. Dennoch war der EM-Fünfte von München nach seinem ersten Auftritt auf der großen Weltbühne zufrieden. „Es hat mega viel Spaß gemacht, mit den Jungs hier im WM-Finale zu laufen. Ich habe auch meine Fans auf der Tribüne gespürt, die ordentlich Lärm gemacht haben. Es ist natürlich schon was anderes, in diesem Stadion mit dieser Atmosphäre laufen zu dürfen, aber die Erfahrung ist Gold wert“, lächelte Abuaka, der im Vorlauf mit 48,32 Sekunden eine neue persönliche Bestmarke aufgestellt hatte.
Spätestens im nächsten Jahr will er dann in die 47er-Regionen vorstoßen und vielleicht sogar Schmids deutschen Uralt-Rekord ins Visier nehmen. „Natürlich bin ich stolz, heute in seine Fußstapfen treten zu dürfen. Aber da sind ja auch die anderen. Wir sind schon eine coole 400-Hürden-Truppe, mit Emil Agyekum, der bis ins Halbfinale gekommen ist, und auch mit Constantin Preis. Damit haben wir wohl bewiesen, dass die Deutschen nicht nur werfen, sondern auch ganz gut sprinten können.“
Bei allem kollektiven Katzenjammer zeichnet sich dabei durchaus die Geburt einer neuen deutschen Schokoladendisziplin ab. Denn für Olympia hat Joshua Abuaku schon die Losung ausgeben, dass es „noch ein bisschen besser werden soll“. Nicht nur Harald Schmid dürfte über solche Ankündigungen erfreut sein. Selber laufen muss der heute 65-Jährige ja zum Glück nicht mehr.