Im großen Garten des Sports fristet die Leichtathletik das Dasein einer „Königin der Nacht“. Sie erblüht nur zu ganz bestimmten Anlässen, nämlich Olympia, Welt- oder Europameisterschaften, dann aber in voller Pracht und Schönheit, sprich mit besten Einschaltquoten und gewaltigem medialem Interesse. Den Rest der Zeit fristet das feine Pflänzlein mit den vielen Farbschattierungen aber eher ein Dasein im Schatten der hemmungslos wuchernden Fußball- oder Wintersporttriebe. Für alle Freunde der Leichtathletik besteht deshalb nun wieder Hoffnung: Vom 19. bis zum 27. August finden in Budapest wieder Weltmeisterschaften statt, für die der Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) am Montag sein 75-köpfiges Aufgebot benannte.
Aufarbeitung der Pleite-WM geriet schnell zur Nebensache
Das Ganze passiert nur ein Jahr nach den bislang letzten Titelkämpfen in Eugene, die für die deutschen Leichtathletinnen und Leichtathleten in einem Desaster endeten. Niemals zuvor holte der DLV so wenige Medaillen bei einer WM wie in Eugene. Ein historisch schlechtes Ergebnis, auch was die Endkampfplatzierungen anbelangt. Die vielstimmig angekündigte Aufarbeitung der Pleite geriet durch das überraschend gute Ergebnis der kurz darauf stattfindenden Europameisterschaften in München rasch wieder in Vergessenheit, doch der Abstand zur Weltspitze hat sich seither kaum verringert.
Wenn nun in Budapest so prominente Namen wie Malaika Mihambo, die in Eugene für die einzige deutsche Goldmedaille im Weitsprung sorgte, Alexandra Burghardt und Lisa Mayer, immerhin 50 Prozent der 4 x 100-Meter-Europameisterstaffel von München, oder der deutsche Speerwurf-Rekordler Johannes Vetter verletzt fehlen, dann besteht selbst zu Zweckoptimismus kaum Anlass.
Richten sollen es in der ungarischen Hauptstadt vor allem die beiden Zehnkampf-Asse Niklas Kaul und der frischgebackene deutsche Rekordhalter Leo Neugebauer, USA-Import Konstanze Klosterhalfen, die in diesem Jahr aber noch nicht mit überragenden Zeiten auf sich aufmerksam machen konnte, Speerwerfer Julian Weber, der auf sein erstes 90-Meter-Ergebnis wartet, Diskuswerferin Kristin Pudenz und vielleicht noch Sprinterin Gina Lückenkemper, bei der aber eine Finalteilnahme über 100 Meter schon als Riesenerfolg zu verbuchen wäre. Der Rest des DLV-Teams läuft, springt oder wirft hinterher.
Hoffnung auf Leichtathletik-Newcomer ist eher gering
Die Hoffnung, dass die große WM-Bühne diesmal von Newcomern genützt wird, um sich in Szene zu setzen, stirbt natürlich zuletzt. Etwa in Person des Münchner Hochsprung-Vize-Europameisters Tobias Potye, der sich im Juli auf durchaus konkurrenzfähige 2,34 Meter gesteigert hatte, das 400-Meter-Hürden-Energiebündel Carolina Krafzik aus Sindelfingen, Stabhochsprung-Shootingstar Bo KandaLita Baehre aus Leverkusen oder Sprinttalent Joshua Hartmann aus Kölnüber die 200 Meter. Aus Bayern sind noch der junge Hammerwerfer Merlin Hummel aus Kulmbach, die Münchner Mittelstrecklerinnen Christina Hering (800 Meter), Katharina Trost (1500 Meter), die Staffelsprinter Yannik Wolf (4 x 100 Meter) und Mona Mayer (4 x 400 Meter) dabei.
Aber veritable Sensationen, wie sie einst die 16-jährige Hochspringerin Ulrike Meyfarth in München oder 800-Meter-Läufer Nils Schumann in Sydney bei ihren Olympiasiegen lieferten, bleiben wohl ein verblasstes Relikt aus goldenen Zeiten. „Dass wir nicht in allen Wettbewerben unsere stärksten Athletinnen und Athleten an den Start schicken können, mindert natürlich unsere Erfolgschancen, da müssen wir realistisch sein“, trat DLV-Cheftrainerin Annett Stein vorsorglich schon auf die Euphoriebremse.
Belohnungssystem anstelle eines Fördersystems
Woran liegt es also, dass die nationale Leichtathletik im Konzert der Großen nur mehr die dritte Geige spielt? Die immer wieder hinter vorgehaltener Hand geäußerte Behauptung, dass viele Nationen in Sachen unerlaubter Hilfsmittel den Deutschen längst den Rang abgelaufen hätten, während diese im Gegensatz dazu nur mehr als Weltmeister in Sachen „Kontrollen“ fungieren würden, hat sich längst selbst als willkommene Ausrede entlarvt. Vielmehr erweist sich immer mehr, dass Gina Lückenkemper, die im vergangenen Jahr den Finger in die Wunden legte, mit ihrer Kritik am eigenen Verband keineswegs verkehrt gelegen haben könnte. Gerade die aktuelle WM-Nominierung liefert eine Reihe von Argumenten für die Lückenkemper-These, dass der DLV kein wirkliches Fördersystem, sondern eher eine Art „Belohnungssystem“ unterhalte. Hierzulande werde nur derjenige gefördert und auch für Highlights wie die WM nominiert, der ohnehin schon an der Spitze angekommen sei. Wie vor allem junge Athleten aber dorthin gelangen sollen, das sei ihr eigenes Problem.