Es gibt die Leichtathletik, mit all ihrem Bemühen um Weiten, Höhen und Zeiten. Und es gibt die 100 Meter. Natürlich hat Letzteres auch irgendwie mit Sport zu tun, denn immerhin müssen die Hauptdarsteller über eine herausragende Fitness, athletische Spitzenwerte und vor allem eine extreme Beschleunigungskraft verfügen. Aber in erster Linie ist es ein Actiondrama erster Güte, vor allem, wenn wieder einmal das Finale einer Weltmeisterschaft oder von Olympischen Spielen ansteht.
Das reicht zurück bis zum blonden deutschen Strahlemann Armin Hary und erlebte erste Superlative, als uns das Schicksal das Duell des Good Guy (Carl Lewis) gegen den gedopten Bad Guy (Ben Johnson) schenkte. Vollends zum Drama, das keiner in Hollywood besser hätte inszenieren können, wurden die 100 Meter mit Usain Bolt. Er entwickelte die Nachhaltigkeit eines Serienhelden, der die Menschen zu Tausenden in die Stadien oder millionenfach vor die Fernsehgeräte lockte. Aber seit Bolt 2016 in Rio von der großen Bühne abtrat, bemühen sich die Verantwortlichen händeringend um einen adäquaten Ersatz.
Fred Kerley bringt sich selbst aus dem Rennen
Nächster Versuch am Sonntagabend bei den Weltmeisterschaften in Budapest. Die Rollen schienen bereits vorab verteilt zu sein: Da gab es Fred Kerley, den etwas muffig wirkenden amerikanischen Titelverteidiger, und vor allem Noah Lyles, den alle schon irgendwie in der Rolle des neuen Usain Bolt sehen. Schon vor dem Lauf ging es hoch her. In der Mannschaftssitzung des US-Teams hatte sich der Weltmeister von 2022 aufgebaut und auf einen Post seines Widersachers geantwortet, der Zeiten von 19,10 Sekunden über 200 Meter und 9,65 Sekunden über 100 Meter angekündigt hatte. „Wenn Noah 9,65 läuft, werde ich schneller laufen”, proklamierte Kerley bewusst cool, worauf Lyles noch einen Tick cooler konterte: „Das sagen sie alle, bis sie geschlagen werden.” Erster Wirkungstreffer. Den zweiten verpasste sich Fred Kerley selber, als er nicht einmal das Halbfinale überstand, ratlos in für ihn bescheidenen 10,02 Sekunden.
Wer also sollte Noah Lyles nun noch schlagen? Da auch der italienische Olympiasieger Marcell Jacobs in Budapest nach 10,05 Sekunden im Halbfinale gestrandet war, konnte es nur der große Unbekannte sein. Und so geriet das hochgejazzte Drama in der Tat zu einem engen Rennen, bei dem der selbst ernannte Favorit nicht den allerbesten Start erwischte. Nach dem Zieldurchlauf gab es – ungewöhnlich genug – nur einen ernsten Blick auf die Anzeigetafel. Denn Letsile Tebogo aus Botswana und der Brite Zharnel Hughes (beide 9,88 Sekunden) hatten ihm ordentlich zugesetzt.
Große Enttäuschung für Gastgeber beim Hammerwerfen
Nach wenigen Sekunden löste sich die Spannung in den gewohnten Gummiball-Freudensprüngen auf. Weiß auf Schwarz stand da, dass Noah Lyles der Champion sei in 9,83 Sekunden. Ein 26-jähriger Sonnyboy, der in Florida in einer Trainingsgruppe mit Gina Lückenkemper trainiert und für seine immer größer werdende Fanschar nahezu alle Selfie-Wünsche im Nemzeti-Atlétikai-Központ-Stadion erfüllte. Das Problem, eine Lichtgestalt wie Usain Bolt zu finden, der die Leichtathletik quasi im Alleingang vor dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit rettet, besteht jedoch weiter.
Ausgerechnet das ansonsten so verschmähte Hammerwerfen könnte Stoff für einen neuen Leichtathletik-Krimi mit überraschenden Helden, enttäuschten Widersachern und intriganten Männern an den Schalthebeln der Macht liefern. Bence Halász, der ungarische Liebling der Massen, hatte mit 80,82 Meter ordentlich vorgelegt und für einen ohrenbetäubenden Lärmorkan gesorgt. Die Aussicht auf die erste Goldmedaille für das Ausrichterland lockte sogar Ministerpräsident Viktor Orbán ins Stadion.
Doch Ethan Katzberg, eine Mischung aus Obelix, Holzfäller und Heavy-Metal-Drummer, brachte im fünften Durchgang alles durcheinander, warf mit 81,25 Metern kanadischen Rekord und ließ sich als neuer Weltmeister vom fairen ungarischen Publikum feiern, während Orbán vorzeitig die Ehrentribüne verließ. Der arme Bence Halász wurde sogar nur Dritter.