Den deutschen Leichtathletinnen und -athleten bleibt im großen Medaillentheater der Weltmeisterschaften von Budapest zwar weiterhin nur ein Platz am Bühnenrand, dennoch drängen sich einige wenige zumindest für eine der tragenden Rollen in den Vordergrund. Ganz nah dran am Part des strahlenden Helden war am Dienstagabend im Nemzeti Atlétikai Központ-Stadion direkt an der Donau der Münchner Hochspringer Tobias Potye. In einem spannenden Wettbewerb, den der italienische Olympiasieger Gianmarco Tamberi mit 2,36 Meter für sich entschied, hielt der 28-Jährige aus Aschheim der Nervenbelastung stand, überquerte 2,33 Meter – die zweitbeste Höhe seiner Karriere – und belegte damit einen durchaus achtbaren fünften Platz.
Dass er vorübergehend sogar an einer Medaille schnuppern durfte, brachte ihn in der entscheidenden Phase des Wettkampfes offenbar etwas aus dem Konzept. „Bei 2,36 Meter hat der Kopf angefangen, sich zu melden“, schilderte Potye unserer Zeitung seine Gemütslage, zumal direkt neben ihm gerade der katarische Co-Olympiasieger Mutaz Essa Barshim an derselben Höhe gescheitert war. Neben Showman Tamberi überfloppte lediglich der US-Flummi JuVaughn Harrison noch die 2,36 Meter. Eine verpasste Chance? „Nein!“, versuchte Potye jeden Hauch von Enttäuschung gleich im Keim zu ersticken. Natürlich sei das Edelmetall vom vergangenen Jahr, als er bei den Europameisterschaften in München überraschend Silber gewann, etwas Greifbares, das man sich um den Hals hängen könne. „Aber Budapest ist für mich sportlich ganz klar der wichtigere Wettkampf gewesen.“
Der Deutsche ist in der Weltelite angekommen
Denn immerhin hatte er sich endgültig im Reigen der Weltelite etabliert, war nun einer der Ihren, den sie respektieren und irgendwann sogar fürchten. In der ungarischen Metropole zumindest zeitweise, denn der Sprung, den Potye über 2,33 Meter absolvierte, war einer der besten seiner gesamten Karriere. „Ich muss mir das noch einmal anschauen“, grübelte er anschließend verschwitzt und irgendwie doch ganz glücklich. „Es ist im Hochsprung leider nicht so, dass man denselben Sprung zwei Mal hintereinander abrufen kann.“ Wäre ihm dies gelungen, dann hätte Deutschland die erste Medaille feiern können, denn Barshim gewann mit 2,33 Meter Bronze. Dafür gibt es bekanntlich den Spruch mit der Fahrradkette …
Vor zwei Jahren, räumte der Münchner Höhenflieger ein, hätte er in diesem Hexenkessel wahrscheinlich „wackelige Knie“ bekommen. Wonach es auch diesmal zumindest bei der Einstiegshöhe aussah. Aber der neue Tobias Potye schaffte es, im richtigen Moment seine Fähigkeiten abzurufen. „Es kann jetzt ruhig so weitergehen. Ich willʼs heuer noch mal probieren. Vielleicht geht ja noch was in Sachen Bestleistung.“ Die liegt bislang bei 2,34 Meter. Und in Sachen „Show“, was auch in bisschen mit dem eigenen Marktwert zu tun hat, sowieso. In Budapest gab es schon vorsichtige Anteile des neuen Tobias Potye zu sehen, eine Rambo-Pose zum Beispiel oder der offen zur Schau gestellte Ärger über die drei Mal (allerdings relativ deutlich) gerissenen 2,36 Meter. Da baute er sich auf der Matte auf, schimpfte, sprang in die Luft.
Budapest fraß dem Weltmeister aus der Hand
Sein Vorbild dabei: Gianmarco Tamberi, der große alte Mann, der immer wieder Wege findet, der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen. Als bei dessen erstem Versuch über bescheidene 2,20 Meter die Latte fiel, fasste sich der 31-Jährige theatralisch an den Kopf und sank wie von einer Gewehrkugel getroffen auf die Matte. Mit zunehmender Höhe klappte die Feinjustierung besser und die Show wurde, sehr zur Freude seiner völlig enthusiasmierten italienischen Landsleute, intensiver. Tamberi animierte das gesamte Stadion zum rhythmischen Klatschen, dirigierte, spielte mit Gesten, einem Lächeln oder anderen Emotionen, gab den athletischen Latin Lover, freute sich, als der kleine Sohn seines Freundes Mutaz Essa Barshim ausgelassen auf der Hochsprungmatte herumhüpfte, und ließ zum Schluss noch 2,40 Meter auflegen, bei denen er aber unten durchlief und stante pede zu einer Ehrenrunde aufbrach. Budapest fraß dem neuen Weltmeister förmlich aus der Hand.
Da will Tobias Potye noch hin. „Ich springe ja nicht zum ersten Mal gegen ihn, ich kenne seine Show. Das ist auch völlig okay. Dieses Show-Element will ich auch nutzen lernen, das kann definitiv beflügeln.“ Cool genug präsentierte er sich jedenfalls schon nach der heißen Nacht an der Donau, beantwortete geduldig alle Fragen, nicht ganz so ausschweifend wie seine Teamkapitänin Gina Lückenkemper, sondern knapp, wohl formuliert und fast schon druckreif. Je öfter der Münchner freilich die verpasste Medaille erklären musste, umso deutlicher wurde ihm offenbar bewusst, welche Chance er da hatte liegen lassen. Der Kopf lässt sich nun mal nicht ganz ausschalten.