Die Atmosphäre wird ein EM-Höhepunkt, doch wird es der Fußball auch? Im brisanten Halbfinale zwischen den Niederlanden und England wollen beide Nationen ihren Traum vom ersten großen Titel seit Ewigkeiten mit aller Macht am Leben erhalten.
Mehr als 100.000 Fans aus beiden Ländern werden am Mittwoch in Dortmund erwartet und den dortigen Fußballtempel in eine ohrenbetäubende Stimmungshochburg in Orange und Weiß verwandeln. Dass sie auf ein EM-Finale hoffen dürfen, haben sich ihre Nationalmannschaften allerdings nicht unbedingt mit hoher sportlicher Kunst erspielt.
Vor allem die favorisierten Engländer rumpelten eher durchs Turnier, als dass sie ihre Gegner beherrschten. Die Auftritte des Starensembles mit dem größten Marktwert aller EM-Teams waren behäbig, oft uninspiriert. Dabei ist das Potenzial riesig - auch und vor allem in der Offensive. Ob Bayern-Superstürmer Harry Kane, Mittelfeldlenker Jude Bellingham oder die beiden Turbodribbler Bukayo Saka und Phil Foden: Sie alle stehen eigentlich für Tempofußball mit Torgarantie. Und nicht nur sie.
Viele Spieler kennen sich sehr gut
„Ich denke, wir werden ein Spiel im Premier-League-Style sehen”, sagte der niederländische Nationalspieler und frühere Bundesligaprofi Micky van de Ven, der mittlerweile bei Tottenham Hotspur spielt. „Der Rhythmus und das Niveau des Spiels werden hoch sein. Viele Spieler kennen sich aus der Premier League.”
Tatsächlich hat das Duell ums EM-Finale etwas von einem großen Klassentreffen. 31 Spieler in beiden Kadern spielen in der Premier League. Andere wie der niederländische Mittelstürmer Memphis Depay waren schon in der wohl besten Fußballliga der Welt aktiv. Auch sonst ist der Fußball der beiden Nationen eng miteinander verknüpft.
In Arne Slot trainiert ein niederländischer Coach in der kommenden Saison als Nachfolger von Jürgen Klopp den FC Liverpool. England-Verteidiger Luke Shaw bekam vor dem Halbfinale bereits eine „freche Nachricht” von seinem niederländischen Trainer bei Manchester United, Erik ten Hag. Und Bondscoach Ronald Koeman hat ebenfalls eine besondere Beziehung zum kommenden Gegner.
Koeman und seine England-Geschichte
Als die Niederlande die Three Lions auf dem Weg zum EM-Titel 1988 in Düsseldorf 3:1 besiegten, war der heute 61-Jährige als Spieler dabei. Fünf Jahre später erzielte er in der WM-Qualifikation sogar ein Tor, nachdem er kurz zuvor für eine Notbremse nur Gelb statt Rot gesehen hatte. Die Niederlande gewann damals 2:0, England verpasste das Weltturnier. Als Trainer arbeitete Koeman schon für den FC Southampton und den FC Everton. Er gilt als Pragmatiker - genau wie sein Gegenüber Gareth Southgate.
Beide mussten sich in diesem Turnier heftige Kritik aus der Heimat gefallen lassen. Nur Weiterkommen reicht vielen Fans und Beobachtern nicht. Einige englische Anhänger warfen sogar Bierbecher nach Southgate, beleidigten ihn mit obszönen Gesten.
„Ich kann nicht leugnen, dass es wehtut, wenn die Dinge so persönlich werden wie zuletzt. Ich glaube nicht, dass es normal ist, wenn einem Bier nachgeworfen wird”, sagte der 53-Jährige. „Aber wir stehen im dritten Halbfinale in vier Turnieren. Wir machen weiter und genießen diese Reise.”
Shaw stützt Trainer Southgate mit deutlichen Worten
2021 scheiterte England im EM-Finale im Elfmeterschießen an Italien. Diesmal soll endlich der zweite große Titel nach dem WM-Triumph 1966 im eigenen Land her. Dabei könnte auch eine Art trotziger Zusammenhalt helfen. Gegen die Kritik von außen stellt sich die Mannschaft geschlossen.
„Wir Spieler lieben ihn. Er ist genau das, was wir brauchen. Er ermöglicht uns, auf dem Feld unser Bestes zu zeigen”, sagte Linksverteidiger Shaw über Southgate. Und Kane erklärte: „Wir sind im Halbfinale, also machen wir es wohl recht gut. Wir haben wirklich diesen Glauben, dass wir etwas Besonderes schaffen können.”
Das und auch die Qualität, nach Rückständen zurückzukommen, haben sie mit ihrem Gegner gemeinsam. Die teils schwachen Leistungen der Vorrunde und in der ersten Hälfte im Viertelfinale gegen die Türkei bremsen die Euphorie bei den Niederländern keineswegs. „Wir können stolz sein, dass wir das Halbfinale erreicht haben”, sagte Koeman. „Das hat niemand erwartet. Aber die Mission ist noch nicht vorbei.”
„Die Gelbe Wand gehört jetzt uns”
Beim Versuch erstmals seit der WM 2010 wieder in ein großes Endspiel einzuziehen, wollen am Mittwoch (21.00 Uhr/ARD/MagentaTV) deutlich mehr Fans dabei sein, als ins Stadion passen. Rund 62.000 Zuschauer sind bei EM-Spielen in der Dortmunder Arena zugelassen. Bis zu 80.000 feierwütige Niederländer werden in der Stadt erwartet und wohl auch wieder von links nach rechts hüpfend ihren berühmten EM-Tanz zeigen. „Die Gelbe Wand gehört jetzt uns”, titelte die niederländische Zeitung „AD” mit Blick auf die legendäre Südtribüne.