Dieser Gegner war mächtiger als jeder andere, mit dem sie es vorher zu tun gehabt hatten. Aber wahrscheinlich hatten sie ihn anfangs unterschätzt. Er war nicht überschaubar, tückisch wie ein Eisberg, der nur ein Stück weit aus dem Wasser ragt und seine wahre Größe verbirgt. Erst wenn man direkt vor ihm steht, zeigt sich seine Dimension. Dann ist es meist zu spät. Natürlich sahen sie in Obernbreit die Spitze des Eisbergs, natürlich registrierten sie, wie nach und nach das kickende Personal von Bord ging. Aber es war nichts mehr zu retten. Am Ende, als der Untergang kurz bevor stand, machten sie es wie das Orchester auf der Titanic, steuerten beschwingt in die Katastrophe.
„Wir haben gut gefeiert“, sagt Gerhard Weiß, „auch nach Niederlagen.“ 21 Jahre ist es her, dass die Fußballabteilung des TSV Obernbreit auf Grund gelaufen ist. Aber Weiß ist auf einmal wieder mitten im Geschehen. Dort, wo im Sommer 1992 all seine Rettungsversuche gescheitert sind, steht nun der Mann, der als Abteilungsleiter den Mangel verwaltete, und der nun versucht die Trümmer zusammenzusetzen. Über die Sache ist längst Gras gewachsen. Schon damals war sie kein großer Aufreger, nicht im Dorf und nicht im Bayerischen Fußballverband. Ein bedauerlicher Einzelfall, hieß es in München.
Heute ist Obernbreit fast überall in Bayern. Der Fußball auf dem Land ist zum bedrohten Gut geworden, eine immer noch wachsende Gruppe von Vereinen kämpft um eine immer knapper werdende Ressource: den Menschen. Verglichen mit 2006, gibt es in Bayern heute 220 000 Kinder und Jugendliche weniger. Ein Minus von fast zwölf Prozent. Weil diese Gesellschaft sich viel zu langsam verjüngt, droht nicht nur Kindergärten und Schulen das Aus, sondern zunehmend auch den Fußballklubs, und das ist eine Entwicklung, die den zuständigen Verband in München dann doch etwas besorgt. In nur sieben Jahren ist dem BFV das Potenzial einer mittleren Kreisstadt der Größe Fürstenfeldbrucks weggebrochen: fast 35 000 Kinder und Jugendliche weniger, die Fußball spielen und ihren Beitrag zur Zukunftssicherung leisten.
Bis zum Jahr 2031 wird die Zahl der jungen Leute unter 18 Jahren noch einmal um mehr als zehn Prozent sinken und die Gruppe der über 65-Jährigen um mehr als ein Drittel zunehmen. Beunruhigende Prognosen sind das, weil das gesellschaftliche Gleichgewicht, die soziale Balance zusehends aus den Fugen gerät: Wer zahlt die Zeche in einer Gesellschaft, die immer älter wird und sich bisher über den Generationenvertrag getragen hat? Vielleicht hat Rainer Koch das alles tatsächlich so kommen sehen, vielleicht haben andere, die er gewarnt haben will, das alles nicht wahrhaben wollen. „Die Zahlen“, sagt der Präsident des Bayerischen Fußballverbandes, „sind ja nicht neu.“ Seit jeher sagen Experten sinkende Geburtenraten voraus. Das ist das erste Problem des Fußballs.
Die Spieler ziehen einfach weiter, was haben sie schon zu verlieren?
Man hätte auch ein anderes Orakel hören können. „Der Fußball stirbt“, sagt Hans Otto Mayer seit Jahren, „und keiner merkt es.“ Seit 36 Jahren regiert Mayer den SV Erlach. Sobald eine Partie seiner Mannschaft angepfiffen ist, sitzt er in der Kulisse. Er ist die Kulisse. Einer, der 36 Jahre an der Spitze eines Fußballklubs steht, weiß einiges darüber zu berichten, was die letzten Jahre schief gelaufen ist an der Basis. Zwei Generationen von Fußballern hat er im Verein erlebt, und wenn er die Generation von heute sieht, kneift er die Augen unter der Brille zusammen. „Der Fußball“, sagt er, „hat nicht mehr die Priorität. Wenn du die Spieler nicht mit Samthandschuhen anfasst, sind sie schnell weg.“ Im Zweifel auf Nimmerwiedersehen. Sie machen es wie viele Firmen in der Globalisierung, sie ziehen einfach weiter, was haben sie schon zu verlieren? „Bindung“, sagt Mayer, „gibt es nicht mehr.“ Noch nie waren die Verlockungen und das Angebot für junge Leute in diesem Land größer, nie war die Mobilität höher. Das ist das zweite Problem des Fußballs.
Noch ist die Lawine nicht gestoppt. Immer noch wird sie nach Prognosen des BFV einige hundert Mannschaften jedes Jahr in die Tiefe reißen. Begonnen hat die Erosion bei den Junioren vor fünf Jahren. Seither ist die Gipfelhöhe von 20 700 Teams auf unter 18 000 geschmolzen. Verbandspräsident Koch könnte versuchen, einzelne Gesteinsbrocken zurück nach oben zu wälzen. Doch er hält das für Sisyphusarbeit. „Es ist gar nicht unser Ansatz“, sagt er, „die Lawine den Berg wieder hochzuschieben. Der Rückgang an Mannschaften ist unvermeidlich, weil die Vereine die Kinder ja nicht selbst zeugen können.“ Viele der auf der Strecke gebliebenen Vereine sind so saft- und kraftlos, bei vielen ist der Aderlass so groß gewesen, dass sie auch Jahre später kaum in der Lage wären, sich zu regenerieren und neu aufzustellen.
Wenn es eine Parallele zwischen all den Gescheiterten und Gestrauchelten gibt, dann ist es der mangelnde Nachwuchs. Immer nahm die Entwicklung in der Jugend ihren Anfang, breitete sich wie ein Virus auf die zweite und erste Mannschaft aus und brachte schließlich alles zum Erliegen. Fließt von unten, von der Wurzel, kein Lebenssaft mehr nach, trocknet auf Dauer auch die mächtigste Eiche aus. Das Siechtum kann Jahre dauern, irgendwann ist es zu Ende. Dann kippt der Baum – und sei er noch so alt.
Eine mächtige Eiche ist der TSV Obernbreit nie gewesen. Nie entwuchsen seine Fußballer den Niederungen der C-Klasse, nie erreichten sie die Größe, die es ihnen erlaubt hätte, auch manch dürres Jahr zu überstehen. Gab es Vorboten des Niedergangs? Ja, es gab welche, sagt Gerhard Weiß, der damalige Abteilungsleiter. Die Jugend hatte sich am Sportplatz so rar gemacht, dass es in keiner Altersklasse mehr für eine komplette Elf reichte. Die guten Spieler verließen Obernbreit, machten in der Umgebung Karriere, wo ein Vereinsheim stand, wo sie sich bequem ankleiden und anständig duschen konnten.
In Obernbreit gab es nur eine zugige Holzbaracke zum Umziehen und Duschen, die einige hundert Meter entfernt lagen, in der alten Turnhalle. „Kein Verein kam gerne zu uns nach Obernbreit“, erinnert sich Weiß. Obernbreit war nicht nur Provinz – es war die Steigerung. Sie lagen im toten Winkel der Wahrnehmung, waren Außenseiter, nicht nur geografisch, auch innerhalb des eigenen Umfelds. Sie lebten, so hörte man, auf Kosten des Vereins. Raubeinige Gesellen, die ihre wenigen Erfolge gern ausgiebig feierten und sich nicht vertrugen mit der Vielzahl graziler Turnerinnen.
Vielleicht schweißte gerade die Abneigung, die sie hie und da spürten, so eng zusammen. Die Arbeiten am Platz erledigten sie selbst, die Trikots besorgten sie selbst, sogar ihren Trainer zahlten sie selbst. Die Fußballer schufen sich ihr eigenes Idyll. Aber wenn ein Älterer aufhörte, blieb dessen Platz meist leer. Es gab zu wenig Nachwuchs, schon damals. Irgendwann standen sie nur noch zu dreizehnt da. Zu wenig, um noch ein Jahr über die Runden zu kommen. „Wir haben alles probiert“, sagt Gerhard Weiß, ein junggebliebener Endfünfziger, den man sich noch heute gut auf dem Fußballplatz vorstellen könnte: als besonnenen Libero. Weiß sah die Wehmut in den Blicken, aber er verschloss darüber nicht die Augen vor der Realität: Es ging nicht mehr, das Idyll starb.
Ein Neuanfang? Womit denn? Es fehlte doch am Wesentlichen
Achim Brückner war zehn, als die Fußballabteilung in Obernbreit liquidiert wurde. Gespielt hat er selber nie – Fußball ist nicht sein Ding, bis heute nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist deshalb gering, so sagt der Vorsitzende des TSV, dass der Ball im Dorf demnächst wieder rollen wird. Die alte Holzbaracke ist längst abgerissen, der Sportplatz nur noch lästiges Anhängsel, an dem der TSV kein Interesse mehr hat. „Der Platz“, sagt Brückner, „ist Hochwassergebiet.“ Und es klingt, als sei das der Persilschein für den Verein, ihn ganz der Natur zu überlassen. Hinter dem Sportplatz räkelt sich der Breitbach in seinem Bett, zwei Bänke stehen am Rand des Spielfelds, steinerne Relikte des Obernbreiter Fußballzeitalters. Der Wind bläst kalt aus Ost, Weiß hat auf einer der Bänke Platz genommen und lässt die Gedanken kreisen.
Als es vorbei war im Sommer 1992, zog er noch einmal weiter, nach Gnodstadt. 37 war er, zu jung zum Aufhören, wie er fand, und er ging tatsächlich in der Hoffnung, im Jahr darauf einen Neuanfang zu machen in Obernbreit. Heute weiß er, dass diese Hoffnung von Wunschdenken getragen war. Wie denn, womit denn ganz von vorne anfangen? Es fehlte doch am Wesentlichen: an Nachwuchs. Auch Weiß' Sohn spielte längst in Marktbreit. Aber dann ließ mit sechzehn das Interesse am Fußball nach. Seine Kumpels hörten auf – und er hörte auch auf. „Zwingen“, sagt Weiß, „kann man keinen.“
In Escherndorf sind an diesem Samstagvormittag die Rollläden am Sportheim heruntergelassen. An lauen Frühlingstagen, wenn die Sonne über die Weinberge blinzelt und diese ganze zauberhafte Rebenlandschaft in goldenes Licht taucht, bekommt auch dieser Platz am Ortsrand etwas vom alten Glanz ab. Nun aber mischen sich in das karge Grau ein paar Regentropfen, und das ist ein Bild, das gut zur Situation des Vereins passt. Die DJK Escherndorf hat schon strahlendere Tage erlebt, ihre erste Fußballmannschaft musste sie 2004 abmelden, nachdem zwei Spielgemeinschaften das Sterben bloß verlängert hatten. Aber dass in diesem Verein doch hin und wieder Leben steckt, lässt sich an diesem Morgen gut beobachten.
Nach und nach trudeln junge Männer am Sportheim ein. Einer schließt die Tür auf, ein zweiter zieht die Rollläden hoch, ein dritter, der eine schwarze Wollmütze ins Gesicht gezogen hat, schleppt Bierkästen nach draußen und stapelt sie ins Auto. Sie alle beseitigen die Spuren der vorigen Nacht, halbleere Tabletts, auf denen noch Wurst- und Käsebrote liegen. Die Jugend hat am Vorabend hier gefeiert, es geht also noch etwas im Verein. Noch ist der Verein am Leben. Doch wie wird es weitergehen? Ohne aktive Fußballer, ohne kickenden Nachwuchs, ohne Perspektive. „Die DJK ist ja ein christlicher Verein“, sagt Sven Galka. „Da sollte die Zusammengehörigkeit an vorderer Stelle stehen.“ In der Not beschränkt sich der Klub auf die Agenda des katholischen Sportverbands DJK, er lebt von Glaube, Liebe, Hoffnung. Der Hoffnung auf ein Wunder am Ufer des Mains.
1986 ist hier das Sportheim erbaut worden, Bernd Galka, der Vater von Sven Galka, legte selbst mit Hand an. Auf einem blass gewordenen Foto an der Wand ist Galka senior in kurzer Hose zu sehen – als Mitglied der Escherndorfer Meistermannschaft, die kurz nach der Einweihung des neuen Domizils aus der niedrigsten in die zweitniedrigste Spielklasse aufstieg. Ein Triumph für einen Ort mit 350 Einwohnern. Sven Galka erlebte ihn als Elfjähriger. Als er und seine Freunde in der Früh auf den Schulbus warteten, kickten sie sich einen Tennisball zu. Für Galka stand zeitig fest, dass er einmal in Escherndorf spielen würde. „Ich wollte meinem Heimatverein helfen, wo ich konnte.“
Als er in die erste Mannschaft kam, zeigten sich schon erste Symptome einer Krise. „Uns bricht die Jugend weg“, hatte sein Vater stets gewarnt. Aber er stand diesem Phänomen so hilflos und so ratlos gegenüber wie die Vorsitzenden anderer Klubs in der Umgebung: Gaibach, Astheim, Eichfeld, Obervolkach – überall dort wurden zwischen 1997 und 2010 die Fußballabteilungen dichtgemacht. Ein Fluch scheint über den Volkacher Stadtteilen zu liegen. Anfangs ließ sich der Mangel in Escherndorf noch kompensieren; aus Burggrumbach, Oberwerrn oder Nordheim kamen Spieler, die mit Galka oder anderen aus der Mannschaft befreundet waren. Im Sommer 2001 spielten sie noch einmal um den Aufstieg in die Kreisklasse. Sie scheiterten in der Relegation. Drei Jahre später erzielte Sven Galka per Kopfball den Treffer zum 2:0-Sieg über Hirschfeld. Danach war Schluss, die Rollläden im Sportheim gingen runter.
Galka fühlte sich wie ein Junkie, den man mit einem Mal auf Entzug gesetzt hatte. „Fußball ist wie eine Droge für mich“, sagt er. Drei Kreuzbandrisse konnten ihm und seiner Leidenschaft nichts anhaben – er spielte einfach weiter. Inzwischen ist er 35, wohnt in Gerolzhofen. Doch das Schicksal seines Heimatvereins lässt ihn nicht los, die große Leere, die so viele Vereine erfasst, wenn die Fußballer abgezogen sind. Zurück bleiben meist überdimensionierte Sportheime, brachliegende Spielfelder und Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit. Galka ist überzeugt, dass es so bald keine Fußballmannschaft mehr in Escherndorf geben wird.
Rainer Koch ist schon wieder unterwegs, Vereine besuchen
Die große Leere, sie treibt auch Rainer Koch an diesem Morgen um. Der BFV-Präsident ist schon wieder unterwegs im Auto, Vereine besuchen. „Eine der großen Stärken des Vereins- und des Fußballsports in Deutschland ist: Es gibt praktisch in jedem Ort einen Fußballverein“, ruft er durchs Telefon. Dann verschwindet er kurz in einem Funkloch, und als er wie- der auftaucht, sagt er noch: „Mein Antrieb ist, dass der Fußball in der Breite verankert bleibt in den vielen ganz kleinen Vereinen.“ Immer noch steigt in Bayern die Zahl der Fußballvereine, sie liegt heute bei etwa 4700. Aber weil umgekehrt die Zahl der Mannschaften sinkt, stellt sich die Frage, welchen Effekt das in der Zukunft hat.
In Kitzingen lehnt Hans Otto Mayer an der Tür seines Sportgeschäfts. „Du musst sehen“, sagt er, „dass du den Fußball erhältst.“ Das ist in seinem Fall ein doppeldeutiger Satz. Denn natürlich hat er schon deswegen ein Interesse an einer Zukunft dieses Spiels, weil es Teil seines Geschäfts ist. Der Fußball trägt und erhält auch ihn. Mayer aber denkt über die Gewinnschwelle hinaus, er denkt an seinen Klub, an den SV Erlach. „Der Fußball“, sagt er, „ist für das gesellschaftliche Leben im Ort so wichtig wie der Musikverein oder die Feuerwehr.“
In Erlach, einem Flecken mit nicht einmal 400 Seelen, kommt noch etwas hinzu: Fußball ist die einzige Abteilung im Verein. „Ohne Fußball ist der Verein tot.“ Schon einmal musste Erlach ein Jahr ohne Fußball auskommen. Im Jahr 2005 stürzte die Mannschaft von der Bezirksliga ins Bodenlose. Mayer schmiss auch diese Krise. Zwölf Monate später begann der SV Erlach ganz neu und ganz unten – in der A-Klasse; der Ball rollte wieder, aber etwas war auf der Strecke geblieben. Altgediente Mitglieder, die der Mannschaft sonst bis nach Hammelburg oder Schweinfurt hinterhergefahren waren, kommen heute nicht einmal mehr zu den Heimspielen.
Vor Jahren wurden die Erlacher gefragt, ob sie eine Spielgemeinschaft bilden wollen mit dem TSV Frickenhausen. Sie lehnten ab. Das Risiko erschien ihnen zu groß, die eigenen Jugendlichen zu verlieren, die heute das Rückgrat der Mannschaft bilden. Nun sind die Frickenhäuser mutig genug, sich auf eigene Beine zu stellen. Torsten Hofmann und Günter Sieber kämpften einst selbst für die Fußballer des Vereins: anfangs noch um Punkte, am Ende um die bloße Existenz. Im April 2006, vier Spieltage vor Saisonschluss der A-Klasse, war auch dieser Kampf verloren. Die Mannschaft, die mit achtzehn Spielern gestartet war, hatte sich auf die Hälfte reduziert. Die letzte Spielzeit war eine unvollendete, eine mit Paukenschlag.
Bis zur Herzkammer des Vereins sind es genau 34 Stufen. Seit Jahrzehnten pulsiert dort, in der gemütlichen Wohnstube des Unteren Tors, im Volksmund TSV-Turm genannt, das Vereinsleben. Sänger, Radfahrer und Winzer haben in Frickenhausen ihren eigenen Turm. Und natürlich der TSV, mit rund 450 Mitgliedern der größte Verein am Ort. Schnitzel und Bratwürste wurden in der kleinen Turmküche gereicht, und zu besonderen Anlässen gab es ein halbes Schwein aus eigener Schlachtung.
Viel Platz hat man hier nicht, doch in der beschaulichen Enge lebt und verdichtet sich die Gemeinschaft. Wenn die Vereine einmal das kleinste gemeinsame Vielfache dieser Gesellschaft waren, dann bekommt dieser Satz hier oben eine spezielle Bedeutung. Hofmann und Sieber, die seit 2003 als erster und zweiter Vorsitzender das Führungsduo beim TSV bilden, brüten am Tisch der Turmstube bei Spezi und Bier die Zukunft aus. Ausgerechnet in einem der ältesten Bauwerke des Ortes lässt sich die Aufbruchstimmung in dieser Nacht mit Händen greifen.
Zwanzig junge Leute warten auf den Neuanfang in der „Zirkusliga“
Nach dem abrupten Ende vor sieben Jahren wird Frickenhausen für die neue Runde wie-der eine Männermannschaft melden. Zwanzig junge Leute stehen bereit für den Neubeginn in der B-Klasse, der „Zirkusliga“, wie Sieber sagt. Den Schwung, der daraus entsteht, wollen sie gleich noch für ein anderes Projekt nutzen: den Ausbau des Sportheims. Bislang ist es bloß eine Art Lagerhalle, die hoch über den Dächern des Ortes steht. Umkleide und Duschen befinden sich unten, in der Schule. Aber wie lange wird es die Schule noch geben, wie lange wird sie sich für den Freistaat noch rechnen? „Diese Gefahr“, sagt Sieber, „hängt uns im Genick.“ Der Verein würde dann zum Getriebenen.
Vor zehn Jahren hat die Gemeinde das Baugebiet „Am Berg“ ausgewiesen, „hervorragende Voraussetzungen, um hier wohnen und leben zu können“, wie sie auf der Internetseite verspricht. Die verlorenen Söhne kann sie damit nicht zurückholen. Günter Sieber, in diesem Jahr fünfzig geworden, sagt: „Die Leute in meinem Alter sind fast alle weggezogen.“ Den Verein traf das doppelt hart: Erst einmal brach die Generation weg, die in Frickenhausen Fußball spielte, und dann fehlt natürlich auch der Nachwuchs aus dieser Generation. Das bekommt jetzt nicht nur der Sportverein zu spüren.
Eine Gruppe junger Frauen wurde im Sommer 2005 in Frickenhausen vorstellig, um die Seiten zu wechseln. Nicht jeder im Verein begriff sofort, warum es sich lohnen könnte, die komplette Frauenfußballriege des SC Marktbreit nach Frickenhausen zu holen – ein Jahr später verstand auch der Letzte: Hier ging es um die Existenz der Abteilung, und vielleicht ging es sogar um mehr. Beim TSV Frickenhausen gab es immer Fußball, dieser Verein definierte sich über Fußball, er braucht den Fußball – so sehr, dass sich Torsten Hofmann die bange Frage stellte: „Was hätten wir gemacht ohne Fußball?“ Die Antwort gibt der 38-Jährige heute selbst: „Jugend hatten wir keine, der Kader bei den Männern war zu klein. Wahrscheinlich hätten wir Geld in die Hand nehmen müssen.“
Geld und Fußball – das ist in vielen Fällen eine unheilvolle Kombination. Tim Frohwein ist Soziologe an der Hochschule Fresenius in München. Für seine Diplomarbeit im vergangenen Jahr hat er 200 Münchner Amateurfußballspieler befragt. Der Tenor: „Mit bezahlten Spielern verlieren die Vereine ihre Identität.“ Frohwein fand heraus, dass in der Bezirksliga 86 Prozent der von ihm befragten Spieler für ihr Hobby entlohnt werden. In der Kreisliga war es jeder Zweite, in der Kreisklasse fast jeder Dritte.
Macht das Geld den „kleinen Fußball“ kaputt? Man muss nicht zur Gruppe der Romantiker gehören, um in der wachsenden Kommerzialisierung eine Gefahr für den Fußball zu entdecken. Der Deutsche Fußballbund hat im vorigen Jahr eine Online-Befragung zu dem Thema gestartet. Unter der Fallnummer 2189 heißt es: „Schade, dass besonders in den kleinen Klassen Geld oftmals viel zerstört und kleine Dorfklubs dadurch nur schwer überleben können.“
Ein Fußballverein braucht heute Standortvorteile, um sich im knallharten Wettbewerb zu behaupten, und das sind Geld oder Kameradschaft, harte Währung oder weiche Währung. Die Crux ist: Kleine Klubs können sich harte Währung nicht leisten, und die weiche Währung ist in Zeiten der Individualisierung zur seltenen Devise geworden. „Du kannst ja nicht in die Zeitung schreiben: Verein sucht Fußballmannschaft. Das funktioniert nicht“, sagen Sieber und Hofmann in Frickenhausen. Dort fanden sich die letzten Jahre mehr und mehr Jugendliche, die einmal pro Woche aus Jux kickten – und irgendwann Lust auf mehr spürten. Hier zahlen sie derzeit also mit weicher Währung.
In Krautheim machten sich im Februar des Jahres 2009 ein paar junge Leute auf zu einem Skiausflug. Als sie wenige Tage später über die engen Kurven der Landstraße zurück in ihren Ort kamen, hatten sie eine interessante Idee dabei: Sie wollten – das hatten sie sich in bierseliger Laune versprochen – wieder eine Fußballmannschaft bilden. Um die Jahrtausendwende hatte hier letztmals ein Team aus Einheimischen gekickt. Aber irgendwann hörte der Spaß auf, irgendwann kostete es nur noch Nerven, den Leuten hinterherzulaufen – und stets im Zweifel zu leben, ob alle, die man angerufen hatte, auch pünktlich zu Spielbeginn da sein werden. Mancher kam sich vor wie bei einer Treibjagd, in der er nicht recht wusste, ob er nur Treiber oder Getriebener war. Oder beides.
Der Mann, der sich damals den „Arsch aufgerissen“ hat, wie sie hier sagen, sitzt an diesem bitterkalten Märzabend im Vereinsheim und hofft auf das Ende des Winters – er hofft auf Sonne und Wärme, und er verflucht den Schnee, weil er sonst wieder nachts raus muss und weil sonst noch eine Partie seiner Mannschaft ausfallen wird. So etwas wie in diesem Jahr hat Harald Elflein noch nie erlebt: weder als Vereinsvorsitzender noch als Fahrer eines städtischen Räum- und Streufahrzeugs: dass der Winter einfach nicht weichen will. Elflein wird nicht rausmüssen in dieser Nacht, aber das kann er jetzt noch nicht wissen, und deshalb sieht man ihn während dieses zweistündigen Gesprächs nur selten einmal lachen. Es könnte natürlich auch daran liegen, dass der 46-Jährige sich aufgerieben hat in den Jahren als Vorsitzender. Diese Zeit ist nicht mehr die Zeit von damals, die Generation eine andere. Manches an dieser Zeit, an dieser Generation ist ihm suspekt.
Die Welt nimmt keine Rücksicht auf die Empfindung eines Dorfes
Als Elflein in Krautheim anfing, Fußball zu spielen, war die Welt für ihn noch klein und überschaubar. Die Gesellschaft von heute ist mobiler geworden, sie reist der Arbeit hinterher und kehrt den Dörfern den Rücken. Das spüren auch die Vereine. Sie sind die letzten, brüchigen Glieder in der riesigen Kette einer Entwicklung, die sich Globalisierung nennt. Die Dorfgemeinschaft hat sich verlagert in die weite Welt, die Welt ist zu einem großen Dorf geworden, aber die Welt hat jedes Ziel und jedes Maß verloren. Sie nimmt keine Rücksicht auf die Empfindungen eines kleinen Dorfes.
Man kommt sich vor wie in einem reißenden Strom. Eine Zeit lang gelingt es, sich ihm entgegenzustemmen. Aber irgendwann lässt die Kraft nach, irgendwann geht es nicht mehr. Irgendwann wird man fortgespült. Aus dem Fußball wird ein Wesen, das kranke Zellen abstößt und sich gesunde, neue sucht. Vereine geben auf, werden abgewickelt, gründen sich neu. Der Fußball atmet Menschen – ein, aus, immer schneller.
In Krautheim liegen alte und neue Welt an diesem Abend fünf, sechs Schritte auseinander. An einem der Tische im Sportheim sitzen vier ältere Herren, alle zwischen sechzig und siebzig Jahre alt. Sie spielen schon den ganzen Abend über Karten. Von den Folgen der globalisierten Berufswelt werden sie nicht mehr viel mitkriegen. Sie lebten im Ort, arbeiteten in der Umgebung und waren meist da, wenn der Verein sie brauchte. Die jungen Leute, die im Nebenraum um einen Tischkicker sitzen, können sich nicht mehr an die Heimat binden wie einst die Alten, sie müssen mobil sein und flexibel und das am besten weltweit. Wo werden sie landen nach Studium oder Ausbildung, wo wird das Raumschiff Globalisierung sie ausspucken?
Schon die Schulzeit ist zu einer Gleichung mit mehreren Unbekannten geworden – hin und wieder geht sie für die Vereine noch auf. Aber die Skepsis gegenüber Projekten wie der Ganztagsschule und dem achtjährigen Gymnasium wächst. Spricht man mit einem wie Burkhard Straßberger, der fast zwanzig Jahre Jugendarbeit im Verein hinter sich hat, spürt man die Resignation. „Es gibt heute weniger Möglichkeiten, dass Gruppen außerhalb der Schule kicken. Der Nachmittagsunterricht erschwert es den Vereinen extrem“, sagt er.
Eine exklusive Stimme ist das nicht. Die Deutsche Sporthochschule Köln, die alle zwei Jahre die Befindlichkeit der Fußballvereine hierzulande erforscht, hat in einer repräsentativen Studie die Angaben von 3457 Klubs ausgewertet. Knapp ein Drittel der Vereine erkennt in der Ganztagsschule ein Risiko für die eigene Entwicklung, beim achtjährigen Gymnasium ist es fast die Hälfte. „Zum Training“, sagt Straßberger, „können die Kinder nur noch einmal die Woche.“
Bei Rainer Koch lag der Fall anders, der Junge wollte ja trainieren und durfte nicht. Koch war acht Jahre alt, wochenlang wurde er von seinem Trainer vertröstet: Man warte auf den Spielerpass. Später wusste er: „Der dachte, ich sei zu blöd zum Fußballspielen.“ Der BFV-Präsident hat diese Geschichte einst in Willanzheim erzählt, vor lauter Schiedsrichtern, und dahinter steckte eine Warnung: vor zu viel Besessenheit, vor Trainern, die am Wochenende die Sportschau sehen und sich damit brüsten, dass ihre E-Jugend 12:0 gewonnen habe und der FC Bayern nur 4:0. Fußball soll Spaß machen, und dazu braucht es Trainer, die mehr vermitteln als die reine Lehre. „Ein Trainer“, so sagt Koch, „muss heute fast schon Sozialpädagoge sein.“
Fragt man Jugendliche, warum sie mit dem Fußballspielen aufgehört haben, fallen mehr als die Hälfte der Antworten so aus: „Der Trainer hat immer nur die Guten spielen lassen, ich saß immer bloß auf der Bank“ (Lara, 17), „Ich habe mich in meiner Mannschaft nicht mehr wohlgefühlt“ (Nico, 15) oder „Das Training war einfach langweilig“ (Dennis, 14). Es sind Antworten aus einer Studie der Universität Vechta. Professorin Iris Pahmeier hat im vergangenen Jahr 161 Jugendliche im Durchschnittsalter von 14,7 Jahren befragt und ist zu einem wenig überraschenden Ergebnis gekommen: Für die Bindung der jungen Leute an den Verein spielt der Trainer die wichtigste Rolle. Gemessen an diesem Satz, müssten die Vereine ihre besten Trainer in die Jugend stecken.
Wer sich aufmacht zu einer Reise nach Riedenheim, durch die schier endlose Weite der Landschaft wie aus einem Bildband für Agrarkultur, kommt in der Ortsmitte Gelchsheims an einem großen Schild der Jugendfeuerwehr vorbei. „Ich bin dabei! Wo bleibst du?“, steht darauf zu lesen. Der Slogan ließe sich auch für eine Kampagne des SV-DJK Riedenheim nutzen. Der Verein hat Nachwuchs bitter nötig. Im Dorf gibt es zwar rund 25 Kinder, die Fußball spielen, aber sie alle sind zu auswärtigen Klubs abgewandert.
Seit fast zehn Jahren hat Riedenheim keine eigene Jugendmannschaft mehr – mindestens ebenso lange dauert nun schon der Überlebenskampf der ersten Männermannschaft. Es ist ein Kampf von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat und von Woche zu Woche. Vor Jahren verlor der VfR Bernsfelden nicht weit von hier seine Mannschaft, sieben Leute kamen nach Riedenheim. Ohne sie wäre es eng geworden.
Vor jeder neuen Saison geht in Riedenheim die Angst um, dass das Personal nicht reichen könnte für ein ganzes Jahr, jeden Monat leben sie in der Sorge, mangels Masse aus dem Spielbetrieb zu fliegen, jeden Sonntag quält sie die Frage, wie diesmal die Elf des Tages aussehen werde. Und doch stürzen sie sich immer wie-der in das Risiko. Warum? Warum nimmt ein Verein, der nach Worten seiner Führung auch ohne Fußball überlebensfähig wäre, die Mühsal auf sich, einen ständigen Kampf auszutragen?
Vielleicht, weil es Leute gibt wie Edwin Fries. In seinen besten Zeiten war Fries in Riedenheim Spieler, Trainer, erster Vorsitzender, Vereinswirt und Bürgermeister, und das alles gleichzeitig. Heute ist er noch Bürgermeister und Trainer – und mitunter der Verzweiflung nahe. Als der Verein in den neunziger Jahren Kreisliga spielte, war der Kader kaum größer. „Anders als heute“, so hat Fries vor der Saison gesagt, „konnte man sich aber auf jeden einzelnen verlassen.“
Das Volk der Vereinsmeier hat ein massives Nachfolgeproblem
Den Vereinsvorsitz hat er in jüngere Hände gegeben. Jochen Raps steht nun an der Spitze des Klubs – und hat die Sorgen seines Vorgängers geerbt. „Welcher Trainer“, fragt er, „tut sich das schon an: kleiner Kader, geringe Trainingsbeteiligung, ständiger Abstiegskampf?“ Im Zweifel nur einer, dem der Verein ans Herz gewachsen ist, der sich mit ihm identifiziert. So wie Harald Elflein in Krautheim, wie Hans Otto Mayer in Erlach.
Die Gesellschaft ist angewiesen auf gemeinsame Erinnerungen und Wertschätzungen. Wer sich nirgendwo aufgehoben und nirgendwo zugehörig fühlt, wird sich schwer tun, Verantwortung zu übernehmen. Deutschland, das mal bewunderte, mal belächelte Volk der Vereinsmeier, hat auch in den Vorstandsebenen seiner Klubs ein massives Nachfolge- und Altersproblem. Der deutsche Durchschnittsvorsitzende ist heute fast 54 Jahre alt.
In Riedenheim wirkt nun ein im Verhältnis blutjunges Führungsduo: Jochen Raps ist 33, sein Vize Wolfgang Müller 35. Doch auch sie stellen seit Längerem fest, dass die Quelle der Gemeinschaftsleistungen versiegt, dass in der Jahresversammlung des Vereins immer mehr Hände unten bleiben, wenn es um die Aufgaben- und Postenverteilung geht. „Viele haben Angst, dass sie Fehler machen oder kritisiert werden“, sagt Müller. Der Fehler ist zu einem Feind geworden in einer Gesellschaft, die sich Fehler immer weniger verzeiht. Mit der Suche nach Perfektion freilich ist in diesem Fall wenig gewonnen.
Rainer Koch weiß, dass der Verband gefordert ist, Konzepte und Strategien auf den Weg zu bringen. Er weiß, dass der Fußball immer noch über hohe Magie und Anziehungskraft verfügt und zum Bindeglied werden kann in einer Zeit, in der die Lebenswelten der Menschen aus verschiedenen Schichten auseinanderdriften. Der Fußball in all seinen Facetten und seiner Faszination ist nach wie vor ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Aber Koch weiß auch: „Den Vereinen laufen die jungen Fußballer nicht mehr von selbst zu.“
Der Verband versucht Angebote zu machen, Tempo aufzunehmen, Schritt zu halten in einer Entwicklung, die ihm nicht gefallen kann. Jeder Verein, der stirbt, jede Abteilung, die schließt, aber auch jede Fusion und jede Spielgemeinschaft ist eine Niederlage für den Fußball und ein bisschen auch für Koch, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Vereine in ihrer Eigenständigkeit zu stützen.
„Pro Amateurfußball“ ist ein erster Anfang, eine Kampagne, mit der sich der BFV zu den Vereinen, zum Fußball an der Basis bekennt. Es ist die Idee, Kooperationen mit Schulen zu erweitern, das Angebot für alle Altersgruppen zu vertiefen, neue Spielformen zu finden, den Spielbetrieb flexibler zu machen. Rainer Koch ist weit davon entfernt zu resignieren, er reist durchs Land, er fordert viel – von sich und seinen Leuten. Vielleicht kann er nicht die Titanic vor dem Untergang retten. Aber er kann einen Teil der gefährlichen Eisberge beiseiteräumen, an denen andere Dampfer sonst zerschellen.