Ein Dienstagnachmittag im März, draußen tänzeln Schneeflocken, der erste Versuch bei Steffi Placht auf dem Handy. Sie nimmt nicht ab. Wenige Minuten später ruft sie zurück. Im Hintergrund laute Rufe, teils wildes Geschrei. Es sei gerade schlecht. Anderthalb Stunden später der dritte Anlauf. Placht wirkt aufgeräumt. Die Turnhalle, wo sie Erstklässlern zuvor beim Nachmittagssport Bälle zuwarf, hat sie verlassen. Man kann das auch im übertragenen Sinn sehen: Sie forderte sie heraus, ließ sie ihre Emotionen ausleben. Die 66-Jährige hat viel mit Jugendlichen zu tun – eigentlich dreht sich alles um sie, ob nun in der Schule, im Verein oder beim Bayerischen Handball-Verband (BHV). Ein Gespräch über die Jugend von heute, über respektvollen Umgang und das schockierendste Erlebnis in ihrer Zeit als Trainerin.
Frage: Frau Placht, Sie haben schon Ihr halbes Leben mit jungen Leuten zu tun. Wie lautet Ihr Befund? Was ist los mit unserer Jugend?
Steffi Placht: Sie wird von einigen schlechter gemacht, als sie ist. Nach 23 Jahren als Auswahltrainerin beim Bayerischen Handball-Verband kann ich sagen: Ich habe mit Jugendlichen nur allerbeste Erfahrungen gemacht. Dass Spielerinnen Jahre später immer noch auf einen zugehen, zeigt doch, dass man vieles richtig gemacht hat. Meine Tätigkeit war und ist getragen von gegenseitigem Respekt. Ich habe auch für mich viel von diesen Spielerinnen mitgenommen. Freilich erlebe ich es auch mal, dass jemand sein Talent verschleudert oder keine Lust mehr hat.
Wie gehen Sie damit um?
Placht: Wenn jemand für sich diese Entscheidung trifft, ist das für mich in Ordnung. Ich habe das immer akzeptiert.
Waren die Jugendlichen früher lernwilliger und ehrgeiziger?
Placht: Na ja, das Angebot war nicht so groß wie heute. Ich fing an, als der Feldhandball zu Ende ging, und jetzt haben wir Event-Charakter. Ich finde Beachhandball gut – als Ausgleich im Sommer und auch, um Verletzungen vorzubeugen. Aber wenn Jugendliche Beachhandball dem Hallenhandball vorziehen, bin ich nicht mehr einverstanden.
Muss man Jugendliche heute als Trainer mehr motivieren?
Placht: Jein. Ich denke, diejenigen, die sich entscheiden, den Weg zu gehen, muss man nicht mehr motivieren, sondern ihnen nur den Weg zeigen, wie sie besser ans Ziel kommen. Liane Lurz und ich leiten ja das Elite-Trainingszentrum des BHV in Nürnberg – und wir sind immer wieder beeindruckt, was junge Leute auf sich nehmen.
Das sind Spieler, die etwas erreichen und zur Elite gehören wollen – anders als die meisten im Verein, die mehr zum Spaß spielen.
Placht: Stimmt schon. Für uns sind das aber immer gute Beispiele, dass sich Leistung lohnt. Ich habe aus diesen Begegnungen auch viel für mich und mein Leben mitgenommen. Ich hole mir daraus ein Stück weit meine Energie.
War dieser Drang nach Selbstverwirklichung bei Jugendlichen früher schon so stark?
Placht: Nein. Man war eher bereit, sich zu integrieren und unterzuordnen – nennen Sie es Kameradschaft. Heute ist man auch im Mannschaftssport wieder eher Einzelgänger. Aber das ist auch unserer Zeit geschuldet: Wir hatten keine Smartphones, also mussten wir uns so zum Training verabreden. Aber glauben Sie mir – wir haben uns immer getroffen, auch ohne Handy.
Folgen Sie Jugendlichen auf einschlägigen Plattformen wie Facebook oder Instagram?
Placht: Nein, das ist deren Bereich. Ich möchte gar nicht wissen, was da vor sich geht.
Es gab Fußballtrainer, die am Wochenende die Partybilder im Internet durchklickten, um zu wissen, was ihre Spieler so treiben.
Placht: Solche Methoden lehne ich ab. Ich erwarte von meinen Spielerinnen schon auch ein bisschen Selbstverantwortung. Wie lange sie abends wegbleiben, wenn sie am Tag darauf ein Spiel haben, müssen sie letztlich mit sich selbst ausmachen. Für mich gehört das zur Grundeinstellung genauso dazu wie eine bewusste Ernährung. Man kann ihnen das nur sagen, umsetzen müssen sie es dann selbst. Das zu kontrollieren ist nicht meine Aufgabe.
Dürfen Ihre Spielerinnen im Training ihr Handy benutzen?
Placht: Nein. Auch auf Lehrgängen haben wir klare Absprachen, dass sie nur abends mal zu Hause anrufen. Sie sollen sich miteinander unterhalten, das Handy stört da nur. Wir haben es auch schon so gemacht, dass sie auf die Lehrgänge ihre Schulsachen mitgenommen haben und die Spielerinnen, die sehr gut in einem Fach sind, einer schwächeren helfen. Auch das sehe ich unter dem Aspekt des Miteinanders. Meine Spielerinnen wissen, dass ich großen Wert auf solche Dinge lege. Ein gewisses Sozialverhalten zeichnet eine Auswahlspielerin auch aus.
Sind Jugendliche heute weicher oder sensibler?
Placht: Das glaube ich nicht. Meine Beobachtung ist eher, dass die Eltern ihre Kinder schützen wollen – damit ihren Kindern nicht widerfährt, was ihnen selbst widerfahren ist. Aber ich bin der Meinung: Jeder Mensch muss seine Erfahrung selbst machen. Man kann sie nicht immer nur vor allem schützen. Junge Leute haben mittlerweile Möglichkeiten, die wir damals nicht hatten. Sie können im Ausland studieren oder sich dort eine Auszeit nehmen. Diese Lebenserfahrung zu machen sollte man ihnen nicht verwehren.
Von Fußballtrainern hört man manchmal, sie dürfen ihre Spieler nicht zu hart anpacken, sonst kommen die womöglich nicht mehr.
Placht: Das kenne ich so nicht. Ich versuche immer, authentisch zu bleiben und meinem Gegenüber respektvoll zu begegnen. Auch wenn junge Leute untereinander den Respekt füreinander fehlen lassen, greife ich ein. Ich sage manchmal: „Jetzt bist du mal der Trainer, und ich bin du. Wie würdest du jetzt an meiner Stelle reagieren?“ Oft kommen da ganz erstaunliche Einschätzungen raus. Ich bin verantwortlich für den sportlichen Prozess, andererseits habe ich auch eine Verantwortung für diese Menschen, bei Jugendlichen noch mehr als bei Erwachsenen.
Sprechen Sie denn mit Ihren Schützlingen auch mal über ernsthafte Dinge wie Politik?
Placht: Ab und zu fragt man schon, und es ist schon erschreckend, was da herauskommt. Während eines Lehrgangs haben wir sie mal mit einem Spruch von Dalai Lama konfrontiert. Keines von 18 Mädchen wusste, wer Dalai Lama ist. Dann hatte ich eine Auswahlspielerin, die den selben Namen trug wie ein Landtagsabgeordneter, und ich fragte sie, ob er mit ihr verwandt sei. Sie schaute mich bloß an und sagte: „Frau Placht, was ist ein Landtagsabgeordneter?“ Da überlegt man dann schon: Was lernen die in der Schule? Die sind stundenlang im Netz, und bei so allgemeinen Dingen hapert es.
Sind Sie heutzutage nicht nur als Trainerin gefragt, sondern zunehmend auch als Psychologin?
Placht: Manchmal auch das, gerade bei jungen Leuten. Sie müssen ja lernen, mit ihren Enttäuschungen umzugehen. Bloß ein Beispiel: Vor drei Wochen stand die Nominierung für eine Sichtung des Deutschen Handball-Bundes an. Da konnten wir nur zwölf Spielerinnen mitnehmen – ich hatte aber achtzehn im Lehrgang. Also musste ich sechs von ihnen sagen, dass sie nicht mitfahren, sondern Reserve sind.
Und?
Placht: Die eine nimmt es sportlich, die andere hadert und sagt: „Aber ich bin doch genauso gut.“ Der muss ich dann meine Entscheidung erklären, und meistens wird sie akzeptiert. Ich kann mich nicht erinnern, dass eine Spielerin aus lauter Enttäuschung für den kommenden Lehrgang abgesagt hätte.
Bei so viel Erfahrung: Bekommen Sie es mit, wenn eine Spielerin daheim Probleme hat?
Placht: Ja, und ich frage auch nach, wenn ich den Eindruck habe, dass etwas nicht stimmt. Neulich sagte ich zu einer Spielerin: „Was ist denn mit dir heute los?“ Sie erzählte mir, dass ihre Oma, die sie so sehr mag, schwer krank sei. Dann wusste ich Bescheid, und ich konnte behutsamer mit ihr umgehen.
Wie ist das mit dem Konflikt zwischen Sport und Schule?
Placht: Also, unsere Auswahlspielerinnen haben so einen Leistungsbogen, auf dem ein paar Empfehlungen stehen: Hausaufgaben, der Nachweis, dass sie das Stützpunkttraining besuchen, solche Dinge. Auch ihr Zeugnis können sie da reinlegen, die meisten machen das. Die Eltern haben das als sehr positiv empfunden, weil wir als Trainerinnen gleich mitbekommen, wie ihre Kinder in der Schule stehen. Wenn jemand eine schlechtere Phase durchlebt, muss er halt mal einen Lehrgang aussetzen und mehr für die Schule tun.
Haben Sie auch das Gefühl, dass Eltern die Erziehung heute Trainern oder Lehrern überlassen?
Placht: Ja, das wird schon gerne gemacht. Man sieht das ja auch an der Entwicklung der Ganztagsschulen in Deutschland. Ich bin selbst an zwei Grundschulen: in Bergtheim und in der Kitzinger Siedlung. Dort machen wir am Nachmittag Bewegungsspiele, und gerade in den ersten Klassen hat man oft ganz schön zu kämpfen. Dieses Laute und Aggressive, dieses Ich-Denken, dass jeder meint, er komme zu kurz, ist schon stärker ausgeprägt als früher.
Sie nehmen mit Ihren geschulten Antennen dann sicherlich auch wahr, wie es im Elternhaus der meisten Jugendlichen aussieht.
Placht: Meistens schon, manchmal auch nicht. Ich hatte eine Auswahlspielerin, die vom Vater missbraucht wurde. Das wusste ich zu dieser Zeit nicht, sondern erst, als sie aus meiner Verantwortung heraus war. Sie war so ehrgeizig, wurde später sogar Nationalspielerin. Ich denke, sie hat das, was sie zu Hause erlebte, in den Sport hineingetragen. Im Nachhinein muss man sie für ihre Leistung doppelt bewundern.
Wie ging die Sache aus?
Placht: Der Fall ging durch die Medien. Sie verklagte später ihren Vater, aber sie sagte mir später auch: „Steffi, ich habe keine Kraft mehr. Ich höre auf.“
Sie haben in all dieser Zeit, in der Sie sie unter Ihren Fittichen hatten, nichts mitbekommen?
Placht: Nein, überhaupt nichts, wie übrigens auch ihr Verein nicht. Der Verantwortliche dort war sogar stellvertretender Schulleiter, aber auch er merkte von alldem nichts. Es gab bei ihr keinerlei Anzeichen. Nach allem, was ich weiß, hat sich der Vater offenbar an die ihre jüngere Schwester herangemacht und sie als ältere hat sich geopfert.
Für Sie als Trainerin muss das ein Schock gewesen sein.
Placht: Natürlich war das sehr schockierend. Sie war drei Jahre bei mir, bis sie 17 war. Ich habe das erst fünf Jahre später mitgekriegt. Der Sport ist keine Garantie für heile Welt. Ich sage zu meinen Mädels immer: Handball ist wie richtiges Leben. Wenn sie nicht gut waren bei einer Sichtung, ist das, als seien sie gerade durch eine Prüfung gerasselt. Sie bekommen bei uns dann immer eine zweite Chance, damit auch bloß kein Talent verloren geht.
Wenn Sie auf die heutige Jugend blicken, was ist also Ihr Fazit?
Placht: Die jungen Leute haben ein Angebot, von dem wir nur träumen konnten. Ich fing mit 14 bei der TG Kitzingen an, spielte mit 15 bei den Aktiven, ging mit 16 zur DJK Würzburg – das war schon fast Leistungshandball. Aber ich wäre gerne nach Berlin oder sonstwohin gefahren, um in der Auswahl oder Jugendnationalmannschaft zu spielen. Das gab es zu unserer Zeit alles nicht. Deshalb sage zu meinen Jugendlichen immer: „Ihr habt unendlich viele Möglichkeiten. Nutzt sie!“
Steffi Placht