Noch einmal kurzer Augenkontakt, dann kann die Schlacht beginnen. Figuren wechseln hektisch den Standort: vor, zurück, kreuz und quer. Es ist ein Geschiebe und Gewusel auf engstem Raum, eines vielleicht 0,25 Quadratmeter großen Bretts, und als Zuschauer hat man ständig Mühe, den Überblick zu behalten. Ralph Müller hat angeregt, das Ganze am Besten einmal live zu zeigen. „Damit Sie wissen, worum es geht.“
Und so sitzen sich jetzt beim Redaktionsbesuch der Trainer Müller und einer seiner Schützlinge – Stella Remler, 13 Jahre alt – zu einer Partie Blitzschach gegenüber: konzentriert, angespannt, mal mit weit aufgerissenen Augen, mal maliziös lächelnd. In Bruchteilen von Sekunden ziehen sie ihre Figuren über das Brett. Atemlos. Lautlos. Scheinbar bedenkenlos. Nur das Klacken beim Betätigen der mitgebrachten Digitaluhr stört die Ruhe im Raum.
Die Zeit wird zum größten Feind in diesem Spiel
Blitz- oder Rapidschach ist Schachspiel auf Zeit. Dauern manche Ligapartien oft mehrere Stunden, so bleiben den beiden Kontrahenten beim „Blitzen“ zehn, zwanzig oder dreißig Minuten, um den Gegner in die Enge zu treiben – und im besten Falle matt zu setzen. Die Zeit wird irgendwann zum größten Feind in diesem Spiel. Nach jedem Klacken stoppt der eine die eigene Uhr und setzt die des anderen in Gang. Der Countdown kann einen kirre machen – das weiß jeder, der schon einmal gegen die Uhr gearbeitet hat.
Blitzschach ist der ICE unter den vielen verschiedenen Vehikeln dieses Spiels. Das Tempo, gerade am Anfang einer Partie, ist atemraubend. Ralph Müller hat die Uhr auf fünf Minuten gestellt. Die ersten 30 Sekunden fliegen Hände und Figuren nur so übers Brett. Dann kehrt erst mal Ruhe ein.
Müller überlegt, versucht seine Dame zu retten. Eine knappe Minute später ist sie verloren, und es wird sichtbar: Schnellschach ist in erster Linie eine Materialschlacht. Nach nicht einmal zwei Minuten muss Stella die Verluste zweier Läufer, Springer und Bauern hinnehmen; Müller hat seine beiden Springer, einen Läufer, die Dame und drei Bauern geopfert.
Wer kaum Zeit zum Nachdenken hat, geht die Sache offensiv an. „Auf Angriff spielen“ ist auch die Strategie, die Müller seinen Schützlingen beizubringen versucht. Er trimmt sie darauf, ihr Gegenüber mattzusetzen, egal, wie. Koste es, was es wolle.
Schach ist am Kitzinger Gymnasium offizielles Wahlfach
Seit zwei Jahren betreut der 50-Jährige die Schulschach-Gruppe am Kitzinger Armin-Knab-Gymnasium. In den 1990er-Jahren machte die Schule mit manchen Erfolgen ihrer Schachspieler von sich reden, dann wurde es still um sie. Heute ist Schach offiziell im Kanon der Wahlfächer verankert, genau wie Theater spielen, Filme machen oder Imkern.
Zwei Stunden die Woche, jeden Freitagnachmittag, ist Müller am AKG und gibt Tipps und Tricks rund um das Schachspiel. Er ist auch das Bindeglied zwischen Schule und Verein – dem 1905 gegründeten Schachclub Kitzingen. Dort engagiert er sich ebenfalls für den Nachwuchs, eine Gruppe, die bis vor etwa einem Jahr ausgestorben schien. „Es gab keinen“, sagt Müller. Er machte sich ans Werk. Dem Verein sollte es nicht so ergehen wie anderen in der Region, die es nicht mehr gibt oder die zu kämpfen haben.
Viele kannten den Kitzinger Schachclub gar nicht
Auf 55 war die Mitgliederzahl beim SC 05 gesunken, heute sind es wieder 75. Fünf Mannschaften gehen ab Herbst in den Rundenspielbetrieb, die höchste in der Landesliga. Ralph Müller sah die Probleme, aber ebenso sah er das „gewaltige Potenzial“ junger Leute, die für das Schachspielen in Frage kamen. „Ich habe gesagt, da müssen wir ran.“ Verwundert stellte er fest, dass viele den Verein gar nicht kannten.
Nun tummeln sich in ihm wieder neun Jugendliche im begeisterungsfähigen Alter zwischen 12 und 18 Jahren, zwei von ihnen Mädchen: Stella Remler und Zeynep Cetinkaya. In der unterfränkischen Rapid-Serie, die sich aus vier Blitzschachturnieren mit je sieben Partien zusammensetzt, sind sie dieses Jahr Erste und Zweite unter den U14-Mädchen geworden. Zeynep ist mit zum Gespräch in die Redaktion gekommen – sie wird sich später noch zwei Duelle mit Freundin Stella liefern.
Jetzt muss sie erst einmal zusehen, wie Stella ihren Trainer zunächst ins Schach zwingt und kurz darauf selbst in die Enge getrieben wird. In diesem Spiel geht das rasend schnell, nie darf man sich seiner Sache zu sicher sein. Stella entkommt der heiklen Lage, indem sie ihren Turm als Schutzschild vor den König zieht. Einige Male geht das so, dann wendet sich das Blatt erneut. Müller hat noch 1:45 Minuten auf seiner Uhr, als er aufgibt. Sein König fällt.
Müller muss seine Schützlinge auch mal gewinnen lassen
„Kinder können sich nur begrenzt konzentrieren“, sagt Müller. Zwanzig Minuten höchstens. Er muss sich gut überlegen, welche Lerninhalte er wie in eine Übungsstunde packt, und darauf achten, dass er seine Schützlinge nicht überfordert. Und: Er müsse ihnen Erfolgserlebnisse vermitteln. Mit anderen Worten: sie auch mal gewinnen lassen, ohne dass sie das merken.
Disziplin, Gedächtnis, Intuition, Ausdauer, visuelle Fantasie, das alles wird beim Schach gebraucht. Ralph Müller hat eine Banklehre gemacht, Betriebswirtschaft und Sportwissenschaften studiert, ist jetzt als Privatlehrer tätig. Ein heller Kopf, ein kluger und kritischer Geist. Er ist sich sicher: Kinder werden am Besten gefördert, indem man sie fordert.
Auf einem Schachbrett stehen auf 64 Feldern 32 Figuren. Es gibt mehr Varianten als Atome im bislang entdeckten Universum. Das kann keiner durchrechnen, auch keine begabten Mathe-Schülerinnen wie Stella oder Zeynep – und doch muss, wer in diesem Spiel erfolgreich sein will, beim Nachdenken vorausdenken. „Antizipieren“ sagen die Experten. Sagt auch Müller. Der Fußballspieler Toni Kroos verfügt über diese Gabe.
Toni Kroos ist einer der besten Fußballspieler der Welt. Weil er dieses Spiel durchdringt und so gut versteht wie kaum ein anderer in seiner Branche. Weil er bis in hinterste Winkel blickt – und weil er Sachen sieht, die kein anderer sieht. Kein anderer sehen kann, weil Toni Kroos sie sieht, bevor sie überhaupt zu sehen sind. Manches ist Intuition, manches Erfahrung, die mit den Jahren reift. Man hat um so mehr Spielzüge im Kopf, je älter man ist, je öfter man dieses Spiel gespielt hat. Kroos schöpft da aus einem unermesslichen Schatz, der für die meisten auf ewig unzugänglich bleiben wird.
Antizipieren ist das, was einen überragenden Sportler von einem sehr guten unterscheidet.
Stella und Zeynep gelten immer noch als Exotinnen
Der amtierende Weltmeister Magnus Carlsen war 13, als er den Status des Großmeisters erwarb – so alt wie Stella und Zeynep. Ein Großmeister muss 2500 Elo-Punkte gesammelt haben – die Zahl errechnet sich durch die besiegten Gegner. Stella steht bei 1121, Zeynep bei 781, Ralph Müller bei 1592. Und Carlsen? Steht derzeit bei 2882.
Stella und Zeynep gelten in ihrem Metier immer noch als Ausnahmen. Fast 90 000 Mitglieder gibt es in den 2400 deutschen Vereinen, doch nur neun Prozent sind weiblich. Geringer ist der Anteil nur noch im Deutschen Motorsport-Bund und im Deutschen Aero-Club.
„Wir sitzen uns im Schach gegenüber und sagen nichts“, erklärt Ralph Müller. „Das widerspricht dem weiblichen Wesen.“ Stella lacht. Was ist für sie die Motivation? „Es macht Spaß und strengt das Gehirn an.“ Für Zeynep ist es einfach nur ein „schönes Hobby“. Früher, also bis vor etwa einem Jahr, hat sie Schach mit ihrer Schwester gespielt. Doch die habe inzwischen keine Lust mehr. Sie verliert nur noch. „Es macht Spaß und strengt das Gehirn an.“
München sucht händeringend nach Schach-Lehrern
Dass es in letzter Zeit wieder mehr Jugendliche sind, die sich für Schach interessieren, hat für Müller auch mit dem System zu tun. In München sei der Zulauf an den Schulen schon so groß, dass händeringend nach ausgebildeten Schachlehrern gesucht werde. Blitzschach leiste da einen guten Beitrag und treffe den aktuellen Zeitgeist.
In einer Gesellschaft, die Zeit als eines der wichtigsten Güter für sich reklamiert, haben klassische Schachpartien eher abschreckende Wirkung. Fünf- oder sechsstündige Duelle, bei denen ein Zug so lange dauert wie bei Stella und Zeynep eine ganze Begegnung.
Wieder läuft der Countdown, wieder huschen Hände und Figuren wild hin und her. Diesmal sitzen sich die beiden Freundinnen gegenüber, mitunter purzeln Bauern und Läufer unkontrolliert vom Brett. Ralph Müller wirkt in diesem Wimmelbild wie der Fels in der Brandung. Er hält sich dezent im Hintergrund, spielt nur gelegentlich mit den Mundwinkeln und schweigt ansonsten.
Auf einmal sagt Stella: „Jetzt hast du einen Fehler gemacht.“ Zeynep sagt: „Ja – stimmt.“ Ihr König fällt. Im zweiten Spiel läuft es besser für sie. Stella hat fast keine Figuren mehr auf dem Brett. „Ausgerechnet jetzt, wo der Fotograf da ist, verlierst du“, sagt Ralph Müller. Stella muss lachen.