Einmal im Jahr ruft der Berg. Hat er aber erst einmal alle Menschen erreicht, die ihm wichtig erscheinen, Menschen wie Michelle Paul, und sie um sich versammelt, dann verstummt er. Mit jedem Meter, dem sie ihm näher rücken, mit jeder Sekunde, in der sie tiefer zu ihm vordringen, wächst die Stille. Schwerelos wie bei einer Tauchfahrt gen Meeresgrund geht es hinein in die Finsternis, und am Ziel angekommen, entfaltet sich eine Kulisse, die etwas von einer schroffen Kraterlandschaft hat, nur dass man dieser Landschaft einen Deckel übergeworfen hat aus Millionen Tonnen schwerem und Millionen Jahre altem Gestein, das einen schon bedrücken kann. So erzählt es Michelle Paul.
Schon zweimal war sie an diesem gleichermaßen unwirklichen wie unheimlichen Ort, einem dieser Lost Places, die einen magisch anziehen – das letzte Mal vor gut einem Jahr. An die Oberfläche drang ihre Geschichte, die von einem Abstieg handelt und bei hellerem Licht betrachtet einen persönlichen Aufstieg illustriert, erst vor ein paar Wochen – auf der Sportlerehrung der Stadt Iphofen.
Es kribbelt im Bauch, dann wird es düster
Da schritt eine junge, zierliche, selbstbewusste Frau von 22 Jahren durch die Halle und leichtfüßig die vier Stufen zur Bühne hinauf, um sich Glückwünsche und Urkunde abzuholen. Auf ihrem kurzen Weg nach vorne liefen im Kopf noch einmal die Bilder ab: wie sie in das stillgelegte Bergwerk von Merkers einfährt, wie es bei ihr im Bauch kribbelt, wie sie in diesem unterirdischen, düsteren Stollensystem ihre Runden als Läuferin dreht, mit der Zunge immer wieder die Lippen befeuchtet und nach 10 Kilometern als Erste ihrer Altersgruppe durch das Ziel läuft.
Einige Tage nach ihrer Auszeichnung sitzt Michelle Paul in der Redaktion und sagt Sätze wie: „Man kann sich nicht vorstellen, was einen da unten erwartet.“ Merkers, ein Ort im Westen Thüringens, auf sanft hügeliges Land gestreut, 1500 Einwohner, Tendenz sinkend. Was man vom 431 Meter hohen Krayenberg aus erblickt, ist überschaubar. Erst unter der Erde zeigt sich die wahre Größe, ein weit verzweigtes Universum mit einem Straßennetz, so dicht wie das von Leipzig, rund 4600 Kilometer lang.
Im wackligen Förderkorb geht es in die Tiefe
An einem kühlen Februartag besteigt Michelle Paul mit 30, 40 weiteren Leuten einen wackligen Förderkorb, allein 750 Läufer müssen auf diese Weise nach unten, in den Berg, gebracht werden. Eisengitter schließen sich, und dann geht es auch schon mit bis zu acht Metern pro Sekunde in die Tiefe. „Düster und eng“ erscheint ihr die Situation. Aber Angst? Nein, Angst hat Michelle Paul nicht. Sie steckt voller Adrenalin.
Gut 90 Sekunden dauert die rasante Fahrt in absoluter Dunkelheit. Als der Aufzug 500 Meter unter der Erde stoppt, hat es 21 Grad, und die Luft steht. Weiter geht es in offenen Transportwagen und über holprige Pisten. Dicht über den Köpfen der Mitfahrer zieht hartes, kantiges Gestein vorbei. Der Helm, der für alle Pflicht ist, soll vor Gefahren schützen.
Fast hundert Jahre lang wurde hier Kalisalz abgebaut, bevor die Treuhand das Werk 1993 dicht machte. Im April 1945 fanden amerikanische Truppen in den Salzhöhlen NS-Beutekunst und 220 Tonnen Gold der Reichsbank, Gesamtwert nach heutigem Stand: mehr als zwei Milliarden Euro. Noch immer sind hier um die 200 Kumpel damit beschäftigt, Stollen zu sichern und mithin den Betrieb des Besucherbergwerks, das im Jahr nicht nur 75 000 Schaulustige anzieht, sondern auch Sportler, Konzert- oder Partygäste. Weshalb, das zeigt sich im Dom, einer in den Berg gesprengten Kathedrale – 250 Meter lang, 22 Meter breit, 17 Meter hoch, einst Zwischenlager für bis zu 50 000 Tonnen Rohsalz. Heute singt im Dom Anastacia, manch anderer feiert seine Hochzeit hier. Für die Läufer ist der Dom Start und Ziel gleichermaßen.
Die Stille ist beklemmend, die Luft atemraubend
Von hier aus macht sich Michelle Paul auf den Weg. Mit einem Helm auf dem Kopf geht es hinein in die anfangs noch gut, dann nur noch spärlich beleuchtete Finsternis. Ihr Trainer beim TSV Iphofen, Ralph Müller, der die Idee hatte, hier zu starten, hat sie vorbereitet, aber was heißt das schon? „Wir sind draußen gelaufen, auf einer beleuchteten Runde. Aber im Berg ist es ganz anders als draußen“, sagt sie. Die Stille wirkt beklemmend, die trockene Luft atemraubend. Mal ist der Boden spiegelglatt, mal wölbt er sich wie ein Schildkrötenrücken.
Drei Runden müssen die Zehn-Kilometer-Läufer drehen und dabei je 55 Höhenmeter überwinden mit bis zu 15 Prozent Steigung und Gefälle. „Da spürst du deine Beine“, sagt Michelle Paul und lächelt. Den ständigen Durst versucht sie weitgehend zu ignorieren: Zu viel zu trinken, das lehrt sie die Erfahrung, macht Seitenstechen. Irgendwann steckt sie im Tunnel, verliert das Gefühl für Raum und Zeit.
Die Orientierung fehlt 500 Meter unter der Erde
Draußen läuft sie meist mit Musik im Ohr und einer App, die ihr Orientierung gibt, aber hier unten gibt es keinen Handyempfang und kein GPS. Mit ihr sind etwa 200 Läufer auf der Strecke, alle mit Helm, manche mit Kopflampe. Sie kommen wie Glühwürmchen aus der Dunkelheit. Michelle Paul tut sich schwer mit ihrem Fahrradhelm – er darf nicht zu fest sitzen, aber auch nicht zu locker. Bei ihrem Debüt im Jahr 2015 brauchte sie für die Strecke noch über 50 Minuten, beim zweiten Mal nur noch 49:06 Minuten.
Weiterer Bergwerkslauf 100 Kilometer entfernt
Am 17. Februar wird in Merkers schon der nächste Lauf gestartet, natürlich ist er längst ausgebucht. 100 Kilometer nördlich, in Sondershausen, gibt es in 680 Meter Tiefe einen weiteren Bergwerkslauf. Als er 1998 das erste Mal ausgetragen wurde, war es der erste weltweit. Für Michelle Paul soll es nicht der letzte Auftritt unter Tage gewesen sein. Erst einmal konzentriert sie sich auf ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin an der Uni Würzburg, die sie im vorigen Herbst begonnen hat, und auf Wettbewerbe in der Region. Aber sie wird aufmerksam zuhören, wenn irgendwann wieder der Berg ruft.