Es war eine beunruhigende Nachricht, die Michal Tonar am Donnerstag aus seiner tschechischen Heimat ins nasskalte Franken sandte. Der 43-Jährige litt unter Husten und Heiserkeit, ein leichter Infekt bahnte sich an bei einer der zentralen Figuren im Spiel der Rödelseer Handballer – und das vor dem Spitzentreffen zwei Tage später mit dem TSV Lohr.
Er solle sich keine Sorgen machen, ließ Tonar seinen Trainer Dusan Suchy via Handy-Botschaft wissen – das werde schon. Tatsächlich stand Tonar am Samstagabend nach ein wenig Bettruhe und der Einnahme etlicher tschechischer Wunderpillen auf der Bühne der Kitzinger Sickergrundhalle, und es wäre schade gewesen, hätten 600 Besucher auf den Auftritt des Stars verzichten müssen. Eines Stars so gänzlich ohne Allüren.
Michal Tonar ist der Maestro des Rödelseer Ensembles und doch interpretiert er seine Rolle so unprätentiös und unaufgeregt, dass man kaum auf den Gedanken kommen könnte, hier sei einer am Werk, der einst 197 Länderspiele für seine Heimat bestritten hat. Tonar dirigiert, er beruhigt, treibt an. Er ist der Mann, der den Takt und den Rhythmus im Angriff der Rödelseer vorgibt, der das Tempo forcieren oder verschleppen kann – und er tut dies in einer solchen Ruhe, mit so viel stoischem Gleichmut, dass das alles eine leichte, ja spielerische Note bekommt. Schön zu beobachten ist das am Samstag in einer Szene Mitte der zweiten Halbzeit. Es steht 19:18, und gesucht ist einer, der in der entscheidenden Phase der Partie mit Tatkraft vorangeht.
Ein Blick für jeden Winkel
Tonar, der zu dieser Zeit nur noch im Angriff eingesetzt wird, bekommt in zentraler Position den Ball, scannt mit den Augen das Spielfeld – in diesem Moment öffnet sich vor ihm die Lücke. Er stößt kraftvoll hinein und wuchtet den Ball zum 20:18 ins Netz. Das Ganze geschieht intuitiv und in Sekundenbruchteilen. Der Tscheche ist im Rödelseer Team der Mann mit dem Orwellschen Auge – einem, dem nichts entgeht, der bis in den letzten Winkel sieht, der auch in hektischen Momenten die Kontrolle über Spiel und Kollegen übt.
Die Mannschaft weiß, was sie an diesem Anführer hat. Röchelt der Häuptling, kriegen, früher oder später, auch die Indianer Husten. Tonar ist sich umgekehrt bewusst, dass er sich auf die Mitspieler verlassen kann – es ist ein Geben und Nehmen, von dem beide Seiten profitieren. „Sie sind bereit, für ihn zu arbeiten, und werden von ihm belohnt“, sagt Trainer Suchy über die Symbiose. Und Tonar sagt: „Ich kann nicht mehr so viel laufen. Meine Mitspieler müssen die Abwehr für mich mitmachen. Dafür möchte ich vorne gute Pässe geben zu schönen Toren.“ So wie nach 27 Minuten, als er – hart bedrängt von einem Lohrer – traumwandlerisch sicher nach rechts passt, wo Jan Kästner steht und zum 16:15 abzieht.
Als zu Beginn der Partie eine starke Führungshand gefragt ist, tritt Tonar selbst als Torschütze in Aktion. Nach 1:19 Minuten erzielt er das 1:0, dann verwandelt er einen Siebenmeter zur 4:2-Führung – und nach gut acht Minuten gehen vier der sechs Rödelseer Treffer auf sein Konto. Nie kommt er in die Verlegenheit, seinen Kredit zu überziehen. Tonar wirft, wenn es geboten scheint, und das ist meist dann der Fall, wenn sich keine andere, keine günstigere Option bietet. Unfehlbar ist er nicht. Beim Stand von 22:19 setzt er einen Siebenmeter (und auch den Nachwurf) in den Sand. Doch er verzagt nicht. Schon in der nächsten Aktion fängt er einen Pass der Lohrer ab, spielt den Ball zu Radovan Suchy an den Kreis und bereitet so den Weg zum 23:20.
Über Michal Tonar zu behaupten, er sei mit 43 Jahren im Herbst seiner Karriere, würde dem Mann nicht gerecht werden. Denn eigentlich ist für ihn längst der Winter angebrochen, und auch das schon seit drei oder vier Jahren, wie er süffisant lächelnd sagt. Tonar war acht, als er mit Handballspielen anfing – und sechzehn, als er Profi wurde. Für ihn stehe Handball an erster, pardon, zweiter Stelle, nach der Familie. Doch die lange Tournee hat Kraft und Mühe gekostet, und sie hat Spuren hinterlassen. Ein Korsett stützt während der Spiele seinen Rücken, zweimal die Woche muss er zur Physiotherapie und zur Massage, und wenn nichts mehr hilft, wirft er eben ein paar Pillen ein, um den Schmerz zu betäuben.
Dieser Michal Tonar ist, wenn man so will, ein Veteran, ein Dinosaurier seines Sports, immer noch gut genug, in der vierten Liga zu brillieren. Ein Star der Samstagabendunterhaltung. Er ist der Gottschalk aus Pilsen, den die Leute mögen, ein Sympathieträger, von dem sie gar nicht genug kriegen können – und ein Quotenkönig eben. Bei den Torjägern der Bayernliga mischt er immer noch ganz vorne mit. Auch gegen Lohr sind es am Ende wieder neun Treffer – drei per Siebenmeter, der Rest so ansatzlos, dass mancher von Toren aus dem Nichts redet. Aber er weiß, dass nun die Zeit des Abschieds gekommen ist. Er wird die Bühne verlassen, und diesmal soll es kein Comeback durch den Hintereingang mehr geben. Diesmal soll es endgültig sein.
Die „definitiv letzte Saison“
Die Rödelseer werden sich an eine Zeit ohne Dinosaurier zu gewöhnen haben. „Es ist wirklich definitiv meine letzte Saison“, hat er am Samstag nochmals klargestellt. Trainer will er werden in seiner Heimat Tschechien. Dafür hat er in Prag den A-Schein gemacht. Wie es weitergehen soll ohne ihn? „Nächste Saison kommen neue Spieler“, sagt er. „Auf der Welt gibt es so viele Handballer.“ Das schon, sagt auch sein Trainer. „Aber nicht solche wie ihn.“