Deutschland ist nicht das, was eine Horde Sulzfelder Jugendlicher an diesem Juni-Abend wirklich interessiert. 45 Minuten gegen wackere Nordiren müssen reichen. In der Halbzeit des EM-Gruppenspiels schnappt sich die aufgekratzte junge Meute einen Ball und verlässt den Platz in der ersten Reihe vor dem Fernseher. Als in Frankreich die zweite Halbzeit angepfiffen wird, toben die Jungs selbst vor dem Vereinsheim. Sie möchten zeigen, dass sie es besser können vor dem Tor als Müller, Götze, Özil, die an diesem Abend Chancen im Übermaß vergeben.
Bernd Hering hat die kleine Geschichte erzählt, zwei Tage nach dem Aufstieg der Deutschen ins EM-Achtelfinale. Er sitzt auf der Terrasse des Sulzfelder Sportheims, kurze weiße Hose, graues T-Shirt, Fußballschuhe. Die Sonne gleißt, es ist der erste heiße Tag des Jahres. Und der erste fußballfreie Tag in Frankreich.
Gerade hat Hering selbst mit einer Handvoll Jugendlicher den Platz beackert, er, der Klubvorsitzende, der so gar nichts Bürokratisches oder Autokratisches an sich hat, ein Vorsitzender zum Anfassen. Zweimal die Woche steht er hier auf dem Rasen – als Trainer, aber auch als einer, der beispielhaft vorangeht. Die Botschaft: In Sulzfeld packen alle mit an, wenn es um die Jugend und damit um die Zukunft des Klubs geht.
Den Vereinen hierzulande laufen die Kinder und Jugendlichen davon. Immer weniger spielen Fußball. In Bayern hat sich die Mannschaftsstärke binnen kurzer Zeit um zwanzig Prozent verringert: von 20 699 im Jahr 2008 auf 17 413 im Jahr 2015. Nicht alle Altersklassen sind gleichsam betroffen. Eines aber lässt sich sagen: Je älter die Jugendlichen sind, um so schwieriger ist es, sie bei Laune zu halten. In der U17 und der U19 ist der Schwund am größten.
Die Sulzfelder verfügen sowohl über eine U19 als auch über eine U17. Mehr noch: Sie haben sich, vor Jahren schon, aus der Abhängigkeit einer Spielgemeinschaft mit dem SV Erlach befreit und sich entschieden, es auf eigene Faust zu probieren. Das wirft vor allem eine Frage auf: Was macht Sulzfeld anders als viele andere Klubs, die den umgekehrten Weg gehen? Die nicht anders können, als sich auf einen Partner zu stützen, weil sie allein viel zu schwach wären?
„Ich weiß nicht, was andere machen“, sagt Karl-Heinz Zehnder. Der Mann, der beim TSV Sulzfeld seit mehr als zwanzig Jahren Kinder und Jugendliche trainiert, kann nur über den eigenen Horizont sprechen. Zehnder sitzt auf einer schlichten Bierbank und blickt über die weitläufige Anlage seines Heimatvereins. Die Antwort, nach der er an diesem Abend sucht, ist nicht in einigen wenigen Sätzen zu finden. Zehnder nähert sich ihr schrittweise.
Da sind zunächst Kindergarten und Grundschule, ein Glücksfall für ein bayerisches Dorf mit rund 1350 Einwohnern. Von dort kommen immer wieder Kinder, die sich für die Angebote des TSV im Allgemeinen und für den Fußball im Besonderen interessieren.
Und da ist ein Verein – 527 Mitglieder in vier Abteilungen, vor 127 Jahren gegründet –, der seine Sache ernst nimmt. Der Wert legt auf regelmäßiges Training, auf gute Betreuung, was immer man darunter versteht, auf eine Art Rundum-Sorglos-Paket. Hering sagt: „Die Eltern wissen, dass sie ihre Kinder bringen können und dass sie hier gut aufgehoben sind.“ Das sei heutzutage viel wert.
Am Tag, als Deutschland bei der EM gegen Polen antritt, steht Hering unten auf dem Rasen und verteilt Leibchen und Bälle. Es ist ein normaler Trainingstag der U13-Junioren, Herings Schützlingen. Als er vor gut zwei Jahren Vorsitzender wurde, versprach er Jugendleiter Zehnder, sich auch als Trainer einzubringen. Das Ergebnis kann man an diesem Abend besichtigen.
Hering dirigiert und motiviert, lässt Torschüsse und Dribblings üben. „Schneller spielen, Erik“, „Tim, was ist los?“, „Chris, probier's mal mit links!“. Auch ein Mädchen ist unter den etwa zehn Jungs. „Soll ich auf Neymar machen oder normal?“, fragt einer, ehe er den Ball Richtung Tor drischt – nicht ganz so grazil wie der brasilianische Superstar des FC Barcelona, aber darum geht es vordergründig gar nicht.
„Wichtig ist“, sagt Hering, „dass die Eltern sehen: Es gibt hier Leute, die sich bemühen, und es funktioniert, auch wenn wir vielleicht nicht um die Meisterschaft spielen.“ Das sind neue Töne eines Klubs, der sich im ausgehenden 20. Jahrhundert neu zu erfinden suchte: Einmal in der Landesliga spielen, das war die Verlockung.
Der TSV stürzte sich in ein kostspieliges Abenteuer, und tatsächlich schaffte er es mit seiner ersten Mannschaft bis nach oben. Auch Bernd Hering war dabei – als Kapitän und als waschechter Sulzfelder, der nie in die Ferne gezogen ist. Nach ein paar Jahren war der Reiz verflogen, es begann ein steiniger Weg zurück zu den Ursprüngen.
Inzwischen gilt nachhaltige Arbeit mehr als kurzfristiger Erfolg – auch das eine Botschaft, die der TSV heute gerne nach draußen sendet. Für junge Talente, die hier in der U17 oder U19 spielen, ist der Sprung zu den Aktiven nun nicht mehr ganz so groß.
Sie hätten den bequemen Weg wählen und in der Spielgemeinschaft bleiben können. Sie hätten Personal sparen und sich im Zweifel hinter ihrem Partner verstecken können. Die Realität aber hat gezeigt, dass dieser Weg nur auf den ersten Blick einfach und bequem ist. Denn der Verein verliert an Identität und an Mitsprache, muss sich Normen und Notwendigkeiten beugen.
Früher brachten die Eltern ihre Kinder mal dahin, mal dorthin. Bis nach Tückelhausen mussten sie fahren. Heute wissen sie: Training ist immer zur gleichen Zeit am gleichen Ort. In der heute so verplanten Welt ist das ein unschätzbarer Vorteil. Hering nimmt an, dass 75 bis 80 Prozent der Kinder aus Sulzfeld sind. Der Rest kommt aus umliegenden Orten: Kitzingen, Marktbreit, Erlach, Segnitz, auch aus Frickenhausen oder Buchbrunn.
Fünf eigenständige Mannschaften hat der TSV Sulzfeld in der gerade zu Ende gegangenen Runde ins Rennen um Punkte geschickt, nur die Altersklasse der unter 15-Jährigen war nicht besetzt. Was vor zwanzig Jahren die Regel war, ist heute eine viel bestaunte Ausnahme. Ganze Orte haben in dieser Zeit ihre Fußball-Jugend verloren, viele wissen nicht, was das für ihre Zukunft bedeutet – in jedem Fall nichts Gutes.
Wohin steuert ein Verein, dem der Nachwuchs ausgeht? Der sich nicht mehr verjüngt? Dem nach und nach die Basis wegbricht?
Keiner sagt, dass es einfach ist, den Nachwuchs großzuziehen, ihn zu päppeln und bei Laune zu halten, auch in Sulzfeld würde das so keiner sagen. Auf der Bank vor dem Sportheim sitzen an diesem Abend drei Charaktere von Fußballern, die auf und neben dem Platz ganz unterschiedlich ticken. Charly Zehnder, 51 Jahre, der Ausgeglichene, Thorsten Wahner, 41, der Impulsive, Bernd Hering, 40, der Stoische. Aber alle drei eint die Art, wie sie sozialisiert wurden. „Wir haben uns nach dem Unterricht zum Fußball verabredet, und jeder war da“, sagt Wahner. „Für uns gab es nichts anderes.“
Was es heute alles so gibt, merken die drei spätestens dann, wenn sie mal ein Spiel oder ein Training verlegen wollen. „Der eine spielt Tennis, der nächste Geige“, erzählt Wahner. „Jeder Tag ist belegt“, sagt Hering. Die Schule stresst noch zusätzlich. Weit mehr als vierzig Prozent eines Jahrgangs in Deutschland machen mittlerweile Abitur.
Der Druck wächst, weil der Staat den Kindern durch das auf acht Jahre verknappte Gymnasium auch noch ein Jahr der Entwicklung geraubt hat. „Die kommen zum Training und sind müde im Kopf“, sagt Wahner, der in diesem Jahr die U11-Junioren trainiert. Einige sind abgelenkt, manche unkonzentriert, andere aufgedreht. Aber immerhin: Sie kommen, und sie bleiben. Das ist es, was der TSV Sulzfeld anderen Klubs voraushat.
Wer sich außerhalb Sulzfelds mit Trainern und Betreuern unterhält, kriegt auf die Frage, wieso ihnen die Jugend zum Teil in Scharen davonläuft, die erwartbaren Antworten: Umzug, Schule, Leistungsdruck, Interessenswandel, erste Freundin und schlechte Trainer. Dazu kommen noch der demografische und gesellschaftliche Wandel und die immer neuen Verlockungen der digitalisierten Welt. Zehnder sagt, er kenne „das Phänomen“. Und fügt hinzu: „Wir hatten die letzten Jahre fast keine Abgänge.“
Ist das pures Glück? Oder liegt das auch an Leuten wie ihm? An verlässlichen Betreuern, soliden Strukturen, einem intakten Umfeld? „Das meiste ist Mundpropaganda“, sagt Hering. „Die Eltern unterhalten sich, die Kinder sprechen in der Schule miteinander. Und da kommt dann eben der Bruder oder der Kumpel eines Spielers auch zu uns.“ Hering ist wie Wahner ein Kind dieses Klubs, einer, der mit und in diesem Verein groß geworden ist und der nun dabei ist, etwas zurückzugeben von den Gaben, die er über all die Jahre empfangen hat.
Vielleicht ist das der Weg, vielleicht klingt manches ganz banal und selbstverständlich. Vielleicht müssen einige in den 4659 bayerischen Fußballklubs sich einfach von der Illusion verabschieden, dass der nächste Müller oder Schweinsteiger gerade aus ihren Reihen kommt.