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FRANKFURT
Joachim Löw im Exklusivinterview: Die Jungen müssen ran
Joachim Löw: Im Interview erklärt der Bundestrainer, wie der Spielstil der Nationalmannschaft künftig aussehen muss und warum er den ausgebooteten Weltmeistern keine Hoffnungen mehr macht.
Joachim Löw       -  Will einen Umbruch im DFB-Team: Bundestrainer Joachim Löw.
Foto: Federico Gambarini | Will einen Umbruch im DFB-Team: Bundestrainer Joachim Löw.
Christoph Fischer, Wolfgang Stephan
 |  aktualisiert: 24.05.2022 10:12 Uhr

Bundestrainer Joachim Löw hat sein Schweigen beendet und erstmals seine Neuordnung der Nationalmannschaft begründet. In einem vorab geführten Interview und bei einer Pressekonferenz am Freitag in Frankfurt verteidigte Löw seine überraschende Ausbootung der drei Münchner Weltmeister Mats Hummels, Thomas Müller und Jerome Boateng. Aber als Trainer müsse er auch harte Entscheidungen treffen. Grundsätzlich sei es nach der WM und den folgenden Spielen in der Nations League unerlässlich und unumgänglich, Veränderung vorzunehmen. Löw: „Wir haben eine Ausrichtung mit einer jungen Mannschaft beschlossen.“

Frage: Es gibt immer zwei Wahrheiten, die erste zum Ende der Nationalmannschaftskarriere des Münchner Trios haben wir aus München gehört, Sie haben nun die Chance, Ihre Version zu erzählen. Haben Sie mit Gegenwind gerechnet?

Joachim Löw: Dass es Reaktionen und Diskussionen geben wird, habe ich erwartet, denn Mats, Thomas und Jerome sind drei verdiente, beliebte Nationalspieler, die Weltmeister geworden sind und eine lange Karriere in der Nationalmannschaft hatten. Sie sind ganz große Spieler, die für eine große Zeit der Nationalmannschaft stehen. Wir - und ich persönlich – verdanken ihnen sehr viel. Dass darüber sportlich diskutiert wird, ist doch klar, und da kann man immer unterschiedlicher Auffassung sein. Was ich in dieser Heftigkeit nicht erwartet habe, ist die Debatte um die Stilfrage. Wir sind doch genau deswegen nach München gefahren. Für mich war das Allerwichtigste - und das stand für mich über allem -, dass die Spieler eine für sie so gravierende Entscheidung von mir persönlich erfahren. Ich wollte der erste sein, der ihnen diese Entscheidung persönlich mitteilt und begründet. Weil ich größten Respekt vor ihnen habe, ging es mir um das persönliche Treffen. So schwer uns das allen gefallen ist, auch mich hat das geschmerzt.

Es gibt aus München auch ein paar Irritationen über die Konsequenzen dieser Ausmusterung. Ist die endgültig?

Löw: Spieler fordern zurecht immer Ehrlichkeit und die ehrliche Antwort ist: Ich plane die Qualifikation und ich plane die Europameisterschaft. Und beides plane ich ohne diese Spieler. Das habe ich ihnen auch mitgeteilt. Ich möchte deshalb auch keine Hoffnungen vortäuschen.

Warum erst jetzt und nicht gleich nach der WM?

Löw: Weil bei der Nationalmannschaft alles in Prozessen und Phasen abläuft. Auch ein Trainer wacht nicht morgens auf und hat immer gleich Lösungen parat. Es gab nach der WM für mich gute Gründe, am Gerüst der Mannschaft festzuhalten. Ich hatte fest an eine Trotzreaktion der gesamten Mannschaft nach der WM geglaubt. Und ich war auch davon überzeugt, dass wir auch in der Nations League die Dinge wieder wesentlich besser machen werden. Das hat sich in den Ergebnissen und gezeigten Leistungen – wohlgemerkt der gesamten Mannschaft – dann anders entwickelt und dargestellt. Nach der Niederlage in Amsterdam war mir klar, dass wir in Paris gegen den Weltmeister einen ersten Schnitt, den ich erst in diesem Jahr angehen wollte, machen mussten. Die Jungen haben das unabhängig von den Ergebnissen gut gemacht. Zum Jahreswechsel wollten wir bewusst abwarten, ob der eine oder andere in Topform aus der Winterpause in die Rückrunde kommt, denn das Jahr 2018 war für alle schwer. Ich wollte auch abwarten, in welcher Verfassung sich die jungen Spieler präsentieren. Können sie auf konstant hohem Niveau bestehen, auch über eine längere Phase? Das meine ich unter anderem mit fortlaufendem Prozess. An dessen Ende bin ich zu der Überzeugung gekommen, jetzt so zu agieren. Als die Entscheidung dann endgültig gefallen war, wollte ich sie schnell umsetzen und den Spielern persönlich mitteilen. Wäre ich im letzten Jahr schon zu dieser ganz klaren Überzeugung gekommen, hätte ich es auch da schon umgesetzt. Aber jetzt geht es um den Neustart. Jetzt startet mit der Qualifikation ein neuer Zyklus.

Aus der großen Mannschaft von Rio bleiben nur noch Manuel Neuer und Toni Kroos. Ist das auch Teil des Prozesses, dass diese beiden noch im Team bleiben?

Löw: Toni Kroos ist 29 und spielt seit Jahren international auf dem höchsten Niveau, auch wenn die ganze Mannschaft von Real jetzt mal eine schwächere Phase hat, und auch Manuel Neuer ist nach wie vor ein Weltklasse-Torhüter.

. . . um den es jetzt Diskussionen gibt. Die Sie selbst in Madrid beim Clasico angestoßen haben, als Sie Marc ter Stegen Nationalmannschafts-Einsätze versprochen haben?

Löw: Ich habe gesagt, dass ich glücklich bin, dass wir zwei Torhüter auf Top-Niveau haben. Marc-André ter Stegen wird in diesem Jahr auch seine Einsätze bekommen, aber aktuell ist Manuel Kapitän und die Nummer eins. Manuel ist der erste, der sich dem Leistungsprinzip unterwirft, das braucht man bei ihm doch gar nicht zu betonen. Glauben Sie mir: Um die Torhüter-Position machen wir uns im Moment die wenigsten Gedanken.

Deutschland steht auf Platz 16 der Weltrangliste. Sind wir wirklich so schlecht?

Löw: Die Weltrangliste ist nicht unbedingt mein Maßstab, aber aufgrund unserer Ergebnisse muss man das hinnehmen. Wir haben bei der Weltmeisterschaft eine Statistenrolle gespielt und sind aus der Nations League abgestiegen. Der Weltranglistenplatz ist die Quittung dafür. Ich sehe aber großes Potenzial bei uns, wieder nach oben zu kommen.

Nun beginnt die Qualifikation mit dem Spiel gegen die Niederlande in Amsterdam. Wie beurteilen Sie die Gegner?

Löw: Holland hat wieder eine sehr gute Mannschaft auf internationalem Niveau. Bei den anderen Mannschaften erwarte ich das, was wir kennen. Weißrussland, Nordirland, Estland werden eher defensiv gegen uns spielen. Mit viel Herz, Ehrgeiz und Motivation. Da kommt das auf uns zu, was wir in der WM-Qualifikation auch erlebt und bis zur WM auch immer gut gemacht haben. Wir haben gegen defensiv eingestellte Mannschaften immer spielerische Lösungen gefunden. Wir haben eine phantastische WM-Qualifikation mit Rekordwerten gespielt, immer Lücken gefunden, weil wir es gut gemacht haben, weil wir schnell mit der notwendigen Dynamik gespielt haben. Bei der WM war das nicht mehr so. Ich halte Ballbesitzfußball weiterhin für wichtig, aber wir haben das in Russland ohne Tempo gespielt. Der Gegner konnte sich immer wieder organisieren. In unserer guten Phase von 2014 bis 2018 konnten sich die Gegner im Spiel nie organisieren, weil wir dynamisch gespielt haben, weil wir schnell waren, schnell im Passspiel, schnell im Denken, schnell in unseren Aktionen und Lösungen. Bei der WM waren wir langsam, das war unser Problem.

Vor der WM hatten Sie das Fehlen eines Mittelstürmers wie Miro Klose beklagt. An dieser Situation hat sich nichts geändert. Der fehlt Ihnen immer noch.

Löw: Ein Stürmertyp wie Miro Klose fehlt uns schon. Oliver Bierhoff und sein Team haben sich dazu schon viele Gedanken gemacht und denken auch an positionsbezogene Ausbildungen, das sind gute und richtige erste Schritte. Das ist eine generelle Aufgabe, auch der DFB-Akademie. Wir sind und bleiben eine Mannschaft, die Kombinationsfußball spielt und liebt. In dieser Frage bin ich zu keinen Kompromissen bereit. Es wird auch ohne Klose keinen anderen Spiel-Stil geben. Wir haben jetzt andere Typen, aber das Ideal verkörpert für mich ein Klose. Er war schnell, kopfballstark, er konnte andere Spieler einsetzen, der finale Pass kam oft von ihm. Wir müssen in Deutschland wieder Spieler ausbilden, die in die Zweikämpfe gehen, die Tempo machen, die 1:1 auflösen können.

Oliver Bierhoff spricht von der Bolzplatz-Mentalität, die wieder gelehrt werden müsse.

Löw: Das stimmt, wir müssen die Kinder wieder spielen lassen, sie müssen Mut haben, ins 1:1 gehen. Das haben wir zuletzt in unserer Ausbildung ein bisschen vernachlässigt. Spiel den Ball, geh ins Dribbling, mach Fehler. Lange war es bei uns so: Spiel den Pass und mach keine Fehler. Wir sind schon in den Jugendspielen zu sehr auf Ergebnisse aus. Die individuelle Förderung muss wieder über allem stehen. Da haben wir Defizite, ganz klar.

Also zurück zur Ursprünglichkeit des Fußballs?

Löw: Wir müssen uns die Frage stellen, wohin der Fußball geht. 2006 wurden die Italiener mit strukturiertem Defensiv-Fußball Weltmeister. 2010 wäre das nicht mehr gegangen, sie schieden aus, Spanien wurde mit perfektem und technisch hochversiertem Kombinationsfußball Weltmeister. Wir waren in Südafrika extrem gut im Umschaltspiel. 2014 wurden wir mit einer guten Mischung und Balance Weltmeister. 2018 holten die Franzosen mit einer überragenden Defensive und einer wahnsinnigen individuellen Wucht in der Offensive den Titel. Mbappé, Griezmann, Pogba, das waren die Entscheider. Wir brauchen spielintelligente, lösungsorientierte Spieler. Organisation kann jede Mannschaft, jeder Trainer gut, aber wir brauchen Spieler, die auf engen Räumen mit wenig Zeit Lösungen finden.

Wie lange werden Sie brauchen, um die jungen Spieler zu entwickeln?

Löw: Die jungen Spieler müssen sich jetzt entfalten, dafür brauchen sie auch die Räume, die wir ihnen geben wollen. Gleichzeitig müssen sie die Verantwortung auch übernehmen, wohl wissend, dass sie in diese hineinwachsen müssen. Dazu gehört auch, dass wir ihnen Fehler zugestehen und wiederum Räume geben, sich entfalten zu können. Als Spieler und Persönlichkeit. Das ist ein spannender Prozess. Diese Zeit haben die Weltmeister von 2014 auch gebraucht, als wir sie 2010 ins kalte Wasser geworfen haben. Die Jungen müssen jetzt loslegen, engagiert, mutig, mit Spaß und Freude, ohne das Gefühl zu haben, stets im übergroßen Schatten der Etablierten zu stehen. Das wird den jungen Spielern guttun. Und dann werden wir sehen, wie weit wir im nächsten Jahr sind.

So sieht der neue Kader der Nationalmannschaft aus

Das Aufgebot der deutschen Fußball-Nationalmannschaft für das Länderspiel gegen Serbien (20.3.) in Wolfsburg und in der EM-Qualifikation gegen die Niederlande (24.3.) in Amsterdam:

Tor: Manuel Neuer (FC Bayern München), Marc-André ter Stegen (FC Barcelona), Kevin Trapp (Eintracht Frankfurt).

Abwehr: Matthias Ginter (Borussia Mönchengladbach), Marcel Halstenberg (RB Leipzig), Thilo Kehrer (Paris Saint-Germain), Lukas Klostermann (RB Leipzig), Antonio Rüdiger (FC Chelsea), Nico Schulz (1899 Hoffenheim), Niklas Stark (Hertha BSC), Niklas Süle (Bayern München), Jonathan Tah (Bayer Leverkusen).

Mittelfeld/Angriff: Julian Brandt (Bayer Leverkusen), Maximilian Eggestein (Werder Bremen), Serge Gnabry (Bayern München), Leon Goretzka (Bayern München), Ilkay Gündogan (Manchester City), Kai Havertz (Bayer Leverkusen), Joshua Kimmich (Bayern München), Toni Kroos (Real Madrid), Marco Reus (Borussia Dortmund), Leroy Sané (Manchester City), Timo Werner (RB Leipzig).

 
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