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München
Ex-Sportchef Nerlinger: "Der FC Bayern saugt dich mit Haut und Haaren auf"
Christian Nerlinger verließ nach dem verlorenen "Finale dahoam" die Bayern. Wie er auf die Zeit zurückblickt, das Scheitern von Trainer van Gaal erklärt und warum er Nachwuchsleistungszentren kritisiert.
Florian Eisele, Robert Götz, Johannes Graf
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:57 Uhr

Herr Nerlinger, ihr letztes Spiel als Sportdirektor des FC Bayern war 2012 das verlorene "Finale dahaom". Ein Jahr später holte die "Generation Wembley" den Champions-League-Titel. Wären Sie gerne ein Teil der Bayern-Geschichte geblieben?

Christian Nerlinger: Ich erwische mich nicht beim Gedanken daran. An den FC Bayern habe ich schöne Erinnerungen. Meine Profikarriere verlief gut, dann bekam ich plötzlich die Chance, als Teammanager und Sportdirektor zu arbeiten. Die Erfahrungen und Momente sind unvergessen. Natürlich bin ich beim FC Bayern noch sehr nah dran, weil ich mit diesem Verein einen gewissen Weg gegangen bin.

Innerhalb eines Jahrzehnts hat der FC Bayern seinen Umsatz verdoppelt. 

Nerlinger: Für mich ist das beinahe ein Wunder, wenn man etwa die Zahlen der Jahreshauptversammlung sieht (854 Millionen Euro Umsatz, d. R.). Der Klub hat in puncto Kontinuität schwierige Phasen gehabt. Sich im Trainer- und Führungsbereich ständig neu aufzustellen, ist eigentlich nicht Bayern-like. Dennoch zu den Top-Five in Europa zu zählen und die Champions League als berechtigtes Ziel ausgeben zu können, ist eine herausragende Leistung.

Neuer und Müller spielen noch. Wie hoch ist ihr Anteil an der "Generation Wembley" gewesen?

Nerlinger: Es war für mich überragend, in führender Position Spieler wie Robben und auch Neuer zu holen, die den Verein in den nächsten Jahren getragen haben. Wenn ich mir die Mannschaft ansehe, die 0:4 im Camp Nou in Barcelona verloren hat und wie die Mannschaft ausgesehen hat, als ich gegangen bin … darauf bin ich sehr stolz. In dieser Phase reiften Schweinsteiger, Lahm, Alaba, Müller, Kroos zu absoluten Führungsspielern, Identifikationsfiguren und auch zu Weltstars. Wir haben im Verein eine klare Philosophie entwickelt, die für die Erfolge ein Fundament war. Unsere Trainer Louis van Gaal und Jupp Heynckes haben eigene Spieler gestärkt, haben Schweinsteiger und Lahm zu Kapitänen gemacht, eine Achse aufgebaut mit Neuer, Boateng und Kroos. Dazu noch die herausragenden Ribéry und Robben. Ich verfolge die Strategie, Mannschaften wachsen zu lassen und punktuell zu ergänzen – und nicht wie im Manager-Game zusammenzukaufen.

Es war schon Wahnsinn, dass Sie gegen Chelsea nach diesem Verlauf und trotz dieser Überlegenheit verloren haben.

Nerlinger: Wenn du dieses Spiel siehst, muss man sagen: Eines von tausend läuft so. Für mich war vorher schon klar, dass es mein letztes Spiel ist. Ob dann in der Euphorie, die entstanden wäre, wirklich der Schritt gekommen wäre, weiß ich nicht. Aber damals war ich überzeugt davon. Weil ich gespürt habe, dass ich eine Veränderung brauche. Für mich war Selbstständigkeit eine große Herausforderung, weil ich das überhaupt nicht gewohnt war. Ich habe mit 17 Jahren meinen ersten Gehaltszettel bekommen als Angestellter und musste mich bis zum Karriereende um nichts kümmern. Ich spüre jetzt, dass die Freiheit, alleinverantwortlich Entscheidungen zu treffen, mein größtes Gut ist. Sportliche Inhalte als Sportdirektor haben mir wahnsinnig Spaß gemacht, aber der Fußball ist ein Konstrukt, mit dem viel Geld, viel Öffentlichkeit und damit auch sehr viele Eitelkeiten verbunden sind. Ich habe viel Energie in Dinge gesteckt, in die ich keine Energie mehr stecken wollte.

Sie haben mal gesagt, am Schluss hätte Ihnen beim FC Bayern jegliche Freude an der Arbeit gefehlt.

Nerlinger: Der FC Bayern saugt dich mit Haut und Haaren auf. Es hat Hochgefühle gegeben, als ich ins Epizentrum dieses Klubs vorgedrungen bin. Plötzlich mit Hoeneß, Rummenigge oder Beckenbauer in alle sportlichen, aber auch gesellschaftlichen Themen eingebunden zu sein, war ein Ritterschlag. Auf der anderen Seite war mein kleinster Sohn fünf Monate alt und in der Zeit sind noch zwei Söhne zur Welt gekommen. Auch als Berater musst du sieben Tage die Woche arbeiten, immer erreichbar oder vor Ort sein. Aber der FC Bayern war eine andere Dimension – inklusive der Gemengelage. Die vier Jahre waren eine top Zeit, aber auch genug.

Sie waren an der Verpflichtung von van Gaal beteiligt. Er hat Müller installiert, war aber auch sehr streitbar. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit ihm?

Nerlinger: Viele Spieler werden sagen: Es war die schwierigste Zeit in ihrer Karriere. Müller wäre auch Profi geworden. Aber ob er ein Spieler dieser Kategorie geworden wäre, weiß ich nicht. Van Gaal hat Alaba und Kroos entwickelt. Hat ein Spielsystem installiert. Hat Disziplin, Ordnung und Spielverständnis reingebracht. Es hat natürlich Kraft gekostet, aber sowohl Heynckes als auch van Gaal haben den Grundstein gelegt, dass der FC Bayern auf diesem Niveau so erfolgreich geblieben ist. Es war wirklich spannend zu beobachten, was ein starker Cheftrainer bewirken kann.

Van Gaals Zeit als Bayern-Trainer war verhältnismäßig kurz. Was hat er falsch gemacht?

Nerlinger: Er hatte ein großes Herz, aber auch Prinzipien. Mit zwei, drei Stellschrauben hätte er langfristig arbeiten können. Das Einbinden junger Top-Talente war ihm wichtig, aber er hätte zusätzlich Top-Transfers zustimmen müssen. Die Mischung aus beidem wäre der geniale Weg gewesen. Die Torhüterposition war ein großes Thema. Neuer war ein sehr kostspieliger Transfer, aber die absolut richtige Entscheidung. Wenn er mit der Vereinsphilosophie mitgegangen wäre, wäre sehr viel Druck raus gewesen.

Warum arbeiten Sie lieber als Berater?

Nerlinger: Die Öffentlichkeit war nie meine Welt. Ich bin weiter im Fußball und biete an, was ich als Spieler gerne gehabt hätte. Ich liebe diesen Sport. Als Berater hast du ähnliche Glücksgefühle, wenn es funktioniert. Natürlich pflege ich mein Netzwerk und den Kontakt zu Klubs, aber in erster Linie geht es darum, die Spieler sportlich zu entwickeln und zu beraten, in der hektischen Branche Ruhe auszustrahlen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. 

Wie sehen Sie da den Kampf um extrem junge Talente?

Nerlinger: Ich sehe Vereine, Berater und Ausrüster in der Pflicht. Ein 13-Jähriger braucht keinen eigenen Ausrüster und muss nicht drei Nachwuchsleistungszentren durchlaufen haben. Ich sehe dieses System kritisch. Du darfst dich nicht immer von der Angst leiten lassen, dass dir ein Supertalent durchrutscht, sondern brauchst mehr Ruhe und Kontinuität im Jugendbereich. Kinder zwischen 12 und 16 sollten in ihrem Umfeld reifen. Jugendliche werden hochgejubelt, begehrt und gehypt – es geht nur um Potenzial. Sie bekommen Verträge, wechseln die Vereine, bekommen Ausrüsterverträge, haben einen Berater, obwohl sie in der U14 oder U15 spielen und noch drei, vier Jahre entfernt sind von ihrem ersten Profispiel. Und sobald es einen Besseren gibt, werden sie einfach fallen gelassen. Das ist eine Tendenz und Dynamik, die mir gar nicht gefällt. Der Mensch steht da im Hintergrund.

Mit Niklas Dorsch, Felix Uduokhai und Finn Dahmen stehen drei ihrer Spieler beim FC Augsburg unter Vertrag. Nur Zufall?

Nerlinger: Manchmal ergibt sich das so. Da hat man mit manchen Klubs mehr oder weniger Berührungspunkte. Letztlich steht die sportliche Einschätzung im Mittelpunkt. Mit ihrer sportlichen Qualität und ihrer Persönlichkeit passen die Spieler zum FCA – und der FCA zu ihnen.

Felix Uduokhai hat in Augsburg eine schwierige Phase hinter sich. War verletzt, wollte weg, hat dann bis Sommer 2024 verlängert.

Nerlinger: Felix ist eine der stärksten Persönlichkeiten, die ich im ganzen Geschäft kennengelernt habe. Aufrichten musste ich ihn nicht, es gab aber natürlich Phasen und Situationen, die intensiver waren.

Niklas Dorsch musste ebenfalls Rückschläge hinnehmen, war wiederholt verletzt.

Nerlinger: Für ihn gilt das Gleiche. Das war extrem. Wie er damit umgegangen und immer wieder zurückgekommen ist, da hat er brutale Stärke bewiesen. Auf dem Weg zurück überlegst du dir schon, wie du als Fußballprofi wahrgenommen wirst. Dass du ein schönes Leben hast. Dass der Weg aber auch steinig ist und du Talsohlen durchschreiten musst. Du hast eine super Zeit, brauchst aber auch physisch und psychisch viel Kraft – vor allem nach Verletzungen.

Waren Sie erstaunt, wie Manuel Neuer zurückgekommen ist?

Nerlinger: Wir haben ihn damals mit der Überzeugung verpflichtet, dass wir für 15 Jahre die deutsche Nummer eins haben. Für uns war er ein teurer und komplizierter Transfer, er persönlich ist angefeindet worden. Wie er schon damals mit solchen Situationen umgegangen ist, war Wahnsinn. Mich hat jetzt nicht überrascht, wie er zurückgekommen ist. Für mich zählt er bei Bayern zur Kategorie Beckenbauer, Maier, Hoeneß oder Kahn. Solchen Spielern wünscht man, dass sie den Abschied selbst bestimmen können.

Letzte Frage: Wie sehen Sie die jüngsten Entwicklungen in Augsburg, vor allem den Trainerwechsel?

Nerlinger: Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen. Jess Thorup ist – wenn man die letzten zehn Jahre betrachtet – der stärkste Trainer, den der FCA hatte. Er hat wahnsinnige Erfolge vorzuweisen, eine klare Philosophie. Ich kenne ihn, weil Niklas Dorsch 2020 zu ihm nach Gent gewechselt ist. Schon da hat er bei mir inhaltlich und menschlich einen Wahnsinnseindruck hinterlassen. Seine Verpflichtung ist ein Meilenstein für den FCA. Dazu kommt, dass die Zusammensetzung im Verein sehr stabil ist: mit Michael Ströll als starke Führungspersönlichkeit, der den Verein seit 17 Jahren verinnerlicht und gestaltet, Sportdirektor Marinko Jurendic und Stefan Reuter als Berater. Ich habe ein sehr gutes Gefühl, was das mittelfristige Ziel angeht, in die Top Ten der Bundesliga vorzudringen. Und ich glaube nicht, dass die derzeitige Entwicklung ein kurzfristiger Effekt ist. Im Gegenteil. Jetzt werden Dinge wachsen und entstehen.

 
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