Der Gedanke an olympische Begegnungen mit russischen Sportlern lässt Anna Ryschykowa schaudern. „Ich kann mir die Wut nicht mal vorstellen, wie man sich zurückhalten soll, wie man sie ansieht”, sagt die ukrainische Hürdensprinterin. Wie viele ihrer Landsleute schmerzt es Ryschykowa, dass Athletinnen und Athleten aus Russland und Belarus trotz des seit mehr als zwei Jahren tobenden Angriffskriegs auf die Ukraine nicht komplett von den Sommerspielen in Paris ausgeschlossen sind.
Voller Zorn blickt aber auch die einstige Sport-Großmacht Russland auf Olympia. Demütigend seien die Zulassungsbedingungen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), wetterten russische Funktionäre. Nur 15 Sportlerinnen und Sportler aus Russland werden in Paris dabei sein, knapp die Hälfte davon Tennisspieler. Vor drei Jahren in Tokio waren es noch 335, die insgesamt 71 Medaillen gewannen.
Im Medaillenspiegel werden weder die Russen noch die 16 Vertreter des Verbündeten Belarus in diesem Jahr auftauchen. Das IOC führt sie als neutrale Athleten, für die weder ihre Flagge gezeigt noch ihre Hymne gespielt werden darf. An der Eröffnungsfeier auf der Seine dürfen sie nicht teilnehmen.
Zugelassen sind laut IOC nur Russen und Belarussen, die keine Verbindung zu Militär und Sicherheitskräften haben und Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine nicht öffentlich unterstützen. In einem mehrstufigen Verfahren wurden Einzelsportler beider Länder überprüft, ehe eine Einladung nach Paris erteilt wurde. Mannschaften bleiben ausgesperrt.
Russen verzichten auf Start in Paradedisziplinen
Aus Protest gegen diese Regeln und die Ablehnung mehrerer sportlich qualifizierter Athleten verzichteten Russlands Ringer und Judoka komplett auf eine Teilnahme in Paris. „Wir akzeptieren nicht das unsportliche Auswahlprinzip, das das Internationale Olympische Komitee bei der Zusammenstellung der Liste der teilnahmeberechtigten Athleten leitete und dessen Zweck darin besteht, das Prinzip der Einheit unseres Teams zu untergraben”, teilte die russische Ringer-Föderation mit.
Auch in Paradedisziplinen wie Turnen und Schießen werden keine Russen am Start sein, die Leichtathleten sind vom Weltverband ohnehin schon lange ausgeschlossen. Da es kaum Erfolge eigener Athleten zu bejubeln geben wird, verzichtet das russische Fernsehen Medienberichten zufolge wohl erstmals seit 1984 auf Live-Übertragungen von Olympischen Spielen.
Für die meisten der 147 ukrainischen Sportlerinnen und Sportler ist indes jedes Bild ihrer Teilnahme in Paris ein starkes Signal in diesen Zeiten. „Es ist schon ein Sieg, dass wir unter den Bedingungen der Invasion teilnehmen können”, sagt Wadym Gutzajt, Präsident des Ukrainischen Olympischen Komitees.
„Man macht das nicht mehr für sich allein”, sagt Leichtathletin Ryschykowa. Dem Sportministerium des Landes zufolge wurden mehr als 470 ukrainische Athleten und Trainer im Krieg gegen Russland getötet, hunderte Sportanlagen zerstört. Mit einer Demonstration erinnerte die Vereinigung der Ukrainer in Frankreich in der Vorwoche in Paris an die gestorbenen Sportler.
Kritik von Menschenrechtlern an Athleten-Auswahl
Der ukrainische Sportminister Matwij Bidny bleibt bei seiner Kritik an der Zulassung von Russen und Belarussen für Olympia. „Wir sind der Meinung, dass es keine neutralen Athleten gibt. Wir denken, dass alle Athletinnen und Athleten, die die russische Aggression nicht unterstützen, ihre Nationalität wechseln sollten”, sagte Bidny der Deutschen Welle.
Vorwürfe erreichen das IOC auch von Menschenrechtlern. Die Initiative Global Rights Compliance stellt in einem 223-seitigen Bericht fest, dass mehr als die Hälfte der ursprünglich für Paris zugelassenen Sportler aus Russland und Belarus die IOC-Bedingungen verletzen würde. So hätten einige doch Verbindungen zum Sicherheitsapparat, andere wären durch Propaganda für den Krieg oder gegen die Ukraine aufgefallen.
Das IOC versichert auf Anfrage, alle Teilnehmer seien entsprechend den Regeln überprüft worden. Einzelfälle wolle die Dachorganisation nicht kommentieren.
Experten warnen vor russischen Cyberattacken
Die Fragen nach dem Umgang mit Russland sind für das IOC seit langem unangenehm. Über Jahre musste sich IOC-Präsident Thomas Bach eine zu große Nähe zu Kremlchef Putin vorwerfen lassen. Jetzt kommen harte Attacken auch aus Russland. „Die Aggressivität der russischen Regierung wächst von Tag zu Tag, gegen das Komitee, gegen die Spiele, gegen mich”, sagte Bach unlängst der Zeitung „Le Monde”.
Mehrfach beklagte das IOC zuletzt eine von Russland gesteuerte Desinformationskampagne. Experten warnen vor verstärkten Cyberangriffen auf Frankreich und die Olympischen Spiele, die vor allem von russischen Hackern zu erwarten seien. Im Schatten des Ukraine-Krieges scheinen ungestörte Spiele kaum möglich.