Herr Protassov, wie geht es Ihnen?
Oleh Protassov: Gemessen an den Umständen, gut! Ich hatte am Anfang der Kriegshandlungen meine Wohnung im Stadtkern Kiews verlassen müssen und bin vor den Toren der Stadt bei meinem ehemaligen Mitspieler und Freund Yennadi Litovtschenko untergekommen. Als sich die russischen Truppen Kiew näherten, bin ich nach Uzhgorod im Westen des Landes geflohen. Seit gut einem Jahr bin ich wieder zu meiner Wohnung zurückgekehrt.
Wie kann man sich den Alltag in Kiew momentan vorstellen?
Protassov: Allmählich kehrt ein Hauch von Normalität in die Stadt zurück. Viele Länder haben ihre Botschaften wieder eröffnet und das Geschäftsleben nimmt, soweit es möglich ist, wieder Fahrt auf. Ab und an heulen die Sirenen, aber man muss nicht mehr in den Bunkern oder die Metro-Stationen Zuflucht suchen. Die einzige Einschränkung ist die nächtliche Ausgangssperre von 23 bis 5 Uhr morgens.
Die Bilder vom zerstörten Staudamm von Kachowka sorgten für Entsetzen in der ganzen Welt. Das kann nicht spurlos an der Vorbereitung der ukrainischen Nationalmannschaft vorbeigegangen sein?
Protassov: Unsere Spieler sind es gewohnt, seit mehr als einem Jahr unter extremsten Bedingungen zu spielen, und das mit Bravour. Natürlich ist das Ausmaß der Katastrophe gigantisch und wird weitreichende Konsequenzen auf die ganze Region von Cherson haben. Nichtsdestotrotz sind wir gewappnet, diesen Widrigkeiten zu trotzen und uns auf unsere Aufgabe zu konzentrieren.
Deutschland hat die anfangs zögerliche Haltung gegenüber der Ukraine aufgegeben und unterstützt nun tatkräftig die ukrainische Armee. Ist dieser Sinneswandel in der breiten Bevölkerung angekommen?
Protassov: Es war nicht nur Deutschland, das anfangs etwas apathisch dem Kriegsgebaren zugeschaut hat. Mittlerweile ist aber Deutschland ein verlässlicher Partner, der uns im Kampf gegen den Aggressor Unterstützung anbietet. Ferner sind wir sehr dankbar und stolz, dass uns der DFB zum Jubiläumsspiel der deutschen Nationalmannschaft nach Bremen eingeladen hat! Das ist eine besondere Ehre und Wertschätzung für uns.
Sie sind in der ehemaligen Sowjetunion geboren und sozialisiert worden. Hätten Sie je erwartet, dass das russische "Brudervolk" Ihre Heimat überfällt?
Protassov: Sicherlich nicht! Auch als die Anzeichen auf Invasion standen, nachdem sich die russischen Truppen an der ukrainischen Grenze zu vermeintlichen Manövern aufgestellt haben, habe ich nicht damit gerechnet, dass dieser Mensch zu diesem Schritt bereit wäre.
Protassov:Rebrov war unser absoluter Wunschtrainer und wir sind sehr glücklich, dass er unsere Offerte angenommen hat. Auf dem Papier sind wir natürlich, gemessen an England und Italien, Außenseiter auf die beiden privilegierten Plätze, die zur EM-Teilnahme führen. Der Fußball schreibt aber bekanntlich oft seine eigenen Geschichten, die viele Überraschungen bergen. Lassen wir uns überraschen!
Apropos EM: Sie haben mit der UdSSR 1988 bei der EM in Deutschland teilgenommen, wo Ihr Team im Finale Holland mit 0:2 unterlegen ist. Nagt diese Niederlage noch an Ihnen?
Protassov: Mit dem Konjunktiv kann man im Fußball bekanntlich nicht viel anfangen! (lacht) Fakt ist jedoch, dass wir die "Oranje" in der Gruppenphase mit 1:0 geschlagen haben und durchaus im Stande wären, dies auch im Endspiel von München zu wiederholen. Aber es gab ein paar Umstände, die dieses Unterfangen schwierig gestalteten. So verwarnte im Halbfinale gegen Italien der belgische Unparteiische unseren besten Verteidiger, Oleg Kuznezov, mit einer fragwürdigen Gelben Karte, sodass er für das Finale gesperrt war. Es klingt jetzt etwas abwegig, aber damals gab es etliche, die der Sowjetunion nichts gegönnt haben, weder im Sport noch woanders.
In der abgelaufenen Saison ist die Meisterschaft mit Spielen vor leeren Rängen ausgetragen worden. Was plant der Verband für die kommende Saison?
Protassov: Es war uns als Verband sehr wichtig, dass die Meisterschaft mitten in Kriegshandlungen ausgetragen werden konnte. Insofern sehen wir es als gelungen, dass unter solchen Bedingungen überhaupt Fußball gespielt werden konnte. In unseren Überlegungen ist jetzt, die Meisterschaftsrunde mit einer geringen Zuschauerzahl über die Bühne zu bringen. Das wäre ein kleiner Schritt Richtung Normalität.
Zur Person:Als Spieler erzielte Oleh Protassov Tore am Fließband für sein Heimatverein DnjeprDnjepropetrowsk und war über Jahre Mitglied der großen Mannschaft der UdSSR, die Ende der 1980er Jahre unter der Federführung von "General" Valery Lobanovsky für viel Furore auf den Fußballbühnen der Welt sorgte. Für viele Experten war jene Auswahl trotz des verlorenen EM-Finales 1988 gegen die Niederlande das beste Team des Jahrzehnts, vor allem dank der Spieler von Dynamo Kiew, die den Löwenanteil im Aufgebot ausgemacht haben. Heute ist der 59-Jährige Vizepräsident des ukrainischen Fußballverbands und beobachtet angespannt von seinem Wohnort in Kiew das Kriegsgebaren in seiner Heimat.