Eigentlich hätte man ihm rückblickend ans Herz legen sollen: Müller, bleib bei deinen Leisten. Oder besser: in Nördlingen – wenn es allein um sein persönliches Wohl gegangen wäre. Irgendwann verließ der "Rieser Bua" aber tatsächlich seine Heimat und ging hinaus in die große, weite Welt. Aus der Perspektive des deutschen Fußballs und des FC Bayern München war das eine mehr als segensreiche Fügung des Schicksals, aus Sicht des Protagonisten eher eine Tragödie. "Das hat er nie ganz verkraftet", weiß Fritz Goschenhofer, der seinen Freund Gerd Müller von der Volksschule her kannte. Beide rannten sie in jungen Jahren in der Nördlinger Bergerstraße dem runden Leder hinterher, Müller immer einen Tick schneller und wendiger als die anderen. Schon damals habe jeder das außergewöhnliche Talent des kleinen Schwarzhaarigen erkannt, erinnert sich Goschenhofer. Irgendwann entdeckte der Fritz dann seine Liebe zu einer anderen runden Kugel, nämlich dem Handball. "Da hat der Gerd versucht, mich wieder zum Fußball rüberzuziehen. Und ich wollte ihn im Gegenzug zum Handball locken." Ein Unterfangen, das scheiterte.
Irgendwann trennten sich ihre Wege, Müller heuerte im Frühjahr 1964 an der Säbener Straße an, der Rest ist Fußballgeschichte. Goschenhofer ging einige Jahre später nach Neuburg, wo er sich als Handballer, Kreisvorsitzender des Bayerischen Landessportverbandes (BLSV) sowie Stadt- und Kreisrat für die CSU einen Namen machte. Getroffen haben sie sich zwischendurch öfter, natürlich in Nördlingen, selbst nach der Rückkehr des größten Torjägers aller Zeiten von seinem Horrortrip in die USA. Der Müller, das sei ein recht geselliger Typ gewesen, der sich im Ries wohlfühlte und einem zünftigen Schafkopf nie abgeneigt war. "Er schuldet mir immer noch fünf Mark für einen Eiskaffee", erzählt Goschenhofer lächelnd. In wenigen Tagen feiert er seinen 80. Geburtstag. Gerd Müller war eineinhalb Jahre jünger, er wäre heuer 79 geworden. Doch der Freund starb am 15. August 2021 nach langem Demenzleiden in einem Pflegeheim.
Hatte Gerd Müller den Zeitpunkt für seinen Abschied verpasst?
Nicht nur Goschenhofer stellt sich seit Jahren die Frage, ob er den richtigen Zeitpunkt für seinen Abschied verpasst hatte. Vielleicht wäre alles würdevoller verlaufen, wenn er nach dem WM-Finale 1974 oder den drei Europacup-Siegen 1976 mit den Bayern seine Schuhe an den Nagel gehängt hätte. Doch Müller klammerte sich an den Fußball wie ein Ertrinkender an eine Holzplanke. Doch das Alter und der körperliche Verschleiß lassen jeden noch so hell leuchtenden Stern ganz allmählich verblassen. Bei Gerd Müller kamen noch finanzielle Probleme dazu. Wie bei seinem Spezi Franz Beckenbauer hatten die Steuerbehörden auch auf ihn ein Auge geworfen. Und dann gab es da noch die ultimative Demütigung durch den damaligen Trainer Pál Csernai im Februar 1979, die Müller nie verwand.
Die Bayern spielten bei Eintracht Frankfurt und lagen nach 82 Minuten 0:2 zurück. Da suchte der eitle Csernai den Machtkampf mit seinem Topstürmer und wechselte ihn aus. Ein ungeheurer Vorgang, der an Majestätsbeleidigung grenzte und schwer an Gerd Müller nagte. "Ich habʼ schlecht gespielt, aber das war dem Csernai grad recht. Er hat mich sowieso nicht leiden mögen", erinnerte er sich später. Nur wenige Tage danach bat Müller um seine Freigabe, um mit 33 wie Beckenbauer seine Laufbahn in den USA bei den Fort Lauderdale Strikers fortzusetzen. "Er hätte lieber dableiben sollen", so Goschenhofer. "Da hat er nicht hingepasst. Alle dachten, jetzt kommt der deutsche Bomber, ein Superstar und Weltmeister. Fußballerisch hatte er sicher noch ein paar gute Spiele und schoss anfangs auch seine Tore. Aber im Vergleich zu Beckenbauer war der Gerd eher schüchtern und zurückhaltend. Und dann noch sein Rieser Dialekt, der immer durchkam! Das ist das genaue Gegenteil von weltmännischem Auftreten. All das hat ihn gekränkt und verletzt, weshalb er auch mit dem Trinken angefangen hat."
Als Müller ab 1981 mit immer wiederkehrenden Bandscheibenproblemen zu kämpfen hatte und unter dem deutschen Trainer Eckhard Krautzun sogar seinen Stammplatz verlor, nahm das Unheil vollends seinen Lauf. Er trank mehr, als ihm guttat und verkroch sich in sich selbst und seinen Kummer. Gerd Müller und der Alkohol – das war ein offenes Geheimnis. Schon bei den Bayern soll es Situationen gegeben haben, in denen er zu tief ins Glas geschaut hatte. Müller betrieb ein Steakhouse namens "The Ambry", ums Geschäft kümmerte sich sein Partner Hans Huber. Müllers einzige Aufgabe: anwesend sein, wenn Besucher mit ihm anstoßen wollten. Goschenhofer: "Weil er sich nicht unterhalten konnte oder wollte, trank er lieber." Gegen zehn Uhr abends war Müller dann regelmäßig blau. "In dieser Zeit hat sich keiner mehr um ihn gekümmert", bedauert sein Freund aus alten Nördlinger Tagen.
Heute weiß keiner mehr, wann genau Müllers Karriere tatsächlich zu Ende ging. Es wird um 1984 gewesen sein, das Jahr, in dem er und die Familie nach Deutschland zurückkehrten. Uli Hoeneß und Franz Beckenbauer überredeten ihn zu einer Entziehungskur, Müller fiel vorübergehend sogar ins Koma, überwand aber seine Alkoholsucht und kehrte zur Bayern-Familie zurück, wo er bis 2014 einen Job im Trainerstab der zweiten Mannschaft ausübte – und zeitlebens trocken blieb. Das gelingt nur einem Prozent aller Alkoholkranken nach dem ersten Entzug. "Mein größter Sieg, noch wichtiger als der WM-Titel", freute sich Gerd Müller später. Fast so etwas wie ein Happy End. Na ja, wenigstens ein halbes…