Takushi Dokiya hält sich die Wade und zieht ein angespanntes Gesicht. Der Außenstürmer hat eben Fußball gespielt, seine Mannschaft hat 3:0 gewonnen. Aber jetzt merkt er, dass es für heute auch genug ist. "Das ist wie ein Wunder", sagt er und lacht. "Wenn ich den Platz betrete, tut mir nichts mehr weh. Aber sobald ich wieder runterkomme und mich hinsetze, geht es manchmal sofort wieder los. Das ist doch Wahnsinn, oder?"
Die 80-Jährigen treffen sich mehrmals im Monat zum Fußballspielen
Wahnsinn ist aber kaum, dass Takushi Dokiya seinen Körper spürt, nachdem er Fußball gespielt hat, sondern eher, dass er überhaupt noch spielt. Der ehemalige Arzt ist 80 Jahre alt und trifft sich mehrmals im Monat im Komazawa koen, einem Sportpark im Westen Tokios, mit Gleichaltrigen zum Fußballspielen. Trainiert werde dagegen individuell. "In einem Park in der Nähe spiele ich alleine Fußball, mit der Wand zum Beispiel. Das mache ich zwei- bis dreimal die Woche", erzählt Dokiya zufrieden. "Wenn ich das nicht mache, fühlt sich mein Körper morgens wie eingerostet an."
Der pensionierte Mediziner ist sicher: Für die körperliche Gesundheit sei vor allem im Alter nicht Ruhe die Antwort, sondern Aktivität. Wehwehchen hätten zwar viele seiner Mitspieler. Vom Sport lasse sich dadurch aber niemand hier abhalten. "Ärzte, die ihren Patienten mit Sportverletzungen dazu raten, sie sollen den Sport lassen, sind ja meistens selbst Personen, die keinen Sport treiben." Der Senior meint stattdessen: "Etwas Schmerzen gehören zum körperlichen Befinden dazu. Man sollte es nur nicht übertreiben." Übertrieben habe Takushi Dokiya aber noch lange nicht.
Diesen Herren, die an einem Montagnachmittag ihre Schienbeinschützer und Fußballschuhe angezogen haben und über einen Kunstrasenplatz rennen, muss man es glauben. Sie spielen im weltweit wohl ersten Ligabetrieb der Altersklasse Über-75. Seit diesem Jahr gibt es zusätzlich eine Ü-80 Spielklasse. Nicht nur Takushi Dokiya nimmt in beiden Wettbewerben teil. Auch der 85 Jahre alte Susumu Handa spielt so viel er kann: "Hier, bei den Jüngeren, bemerkt man die Altersunterschiede aber schon", sagt er nach einem Spiel. "Bei der Schnelligkeit und der Kraft vor allem."
Als der Zweite Weltkrieg endete, war Susumu Handa in der Grundschule
Und das, obwohl auch er jede Woche Sport mache. Handa zählt auf: "Dehnübungen, Fußball und Tennis…" Als 1945 der Zweite Weltkrieg endete, war Susumu Handa, dessen Haare heute weiß sind, ein Grundschüler. Mit dem Fußball fing er erst als 50-Jähriger an, denn in seiner Jugend habe es in seinem Heimatdorf nicht mal einen Fußball gegeben. So gehöre er in seiner Mannschaft, die das eben abgepfiffene Spiel verloren hat, auch eher nicht zu den Leistungsträgern.
"Ich selbst sehe mich eigentlich auf einer Verteidigerposition, aber da lassen sie mich nicht spielen", erzählt Handa etwas verlegen. "Wenn ich hinten einen Fehler mache, kann ja sofort ein Tor fallen." Deswegen spiele er weiter vorn. "Ein Vorteil von mir ist aber, dass ich eigentlich keine körperlichen Probleme habe. Und das ist ja das Wichtigste." Als er jünger war, sagt Susumu Handa und muss lachen, hätte er niemals gedacht, dass er so lange noch würde Sport machen können.
Diese Senioren verkörpern in Japan einen Trend, der das ostasiatische Land zu einem weltweiten Pionier macht: die alternde Gesellschaft mit einem immer längeren Leben in Gesundheit. Jede dritte Person in Japan ist heute mindestens 65 Jahre alt und gilt damit laut den Vereinten Nationen als Senior oder Seniorin. Über die kommenden Jahrzehnte wird dieser Anteil weiter zunehmen. Japans Bevölkerungsdichte von Menschen mit einem dreistelligen Alter ist schon heute die höchste der Welt.
In Tokio gibt es einen eigenen "Seniorenfußballverband"
Und so nimmt die Nachfrage nach Sportangeboten für Seniorinnen und Senioren zu. Es ist quasi ein Boomsektor. So sieht es jedenfalls Tetsushi Aoyama vom "Seniorenfußballverband" in Tokio, der am Rand steht und dem nächsten Spiel zusieht: "Unseren Verband gibt es gut seit zehn Jahren. Wir sind Teil des Ligabetriebs des Japanischen Fußballverbands." Altersmäßig teilt sich der Verband in Fünfjahresgruppen ein: Ü70, Ü75 und seit diesem Jahr auch Ü80. "Die Ü80er-Liga hatten wir schon länger geplant. Und jetzt haben wir endlich genug Leute."
Aoyama, der selbst erst 68 Jahre alt ist, aber auch noch Fußball spielt, holt einen Zettel aus seiner Tasche. Er zeigt eine Tabelle mit den Mannschaften der letzten Jahre: Als der Ligabetrieb im Jahr 2012 begann, gab es im Raum Tokio bloß vier Ü70-Mannschaften. Heute sind es 18. In der Ü80-Altersklasse nehmen bisher drei Mannschaften teil. Und pro Team sind es 15 bis 30 Spieler – schließlich falle immer mal jemand aus: Einige Spieler müssen aufhören, weil sie dann doch alterskrank werden.
Beim Seniorenfußball ist foulen verboten
"Und wer sich verletzt, ist auch schnell mal für zwei oder drei Monate nicht einsatzfähig", so Aoyama. Um zumindest die Sportverletzungen zu reduzieren, wurde kurz nach Beginn der Liga die Regel eingeführt, dass Grätschen auch schon leichtes Rempeln verboten sind. Standfußball ist das, was sich hier jeweils über zweimal 20 Minuten zeigt, nämlich nicht. Gerade der Außenspieler Takushi Dokiya rennt auch jüngeren Gegenspielern davon. Gedribbelt wird kaum, dafür sieht man viele überlegte Doppelpässe. Dabei gehe es vor allem um Spaß, sagen sich die Supersenioren hier.
Ohne Ehrgeiz geht es aber auch nicht. Der 83-jährige Mutsuhiko Nomura ist etwas zerknirscht, nachdem seine Mannschaft verloren hat 0:2. Nach dem Spiel, auf dem Weg zum gemeinsamen Mittagessen, resümiert er: "In meiner Mannschaften sind zwei körperlich eher schwache Spieler. Das Alter kann da eine Rolle spielen, aber auch nicht nur. Wir sind leider nicht die stärkste Truppe."
Mutsuhiko Nomura wurde von Dettmar Cramer trainiert
Nomura spielt Fußball, seit er zwölf Jahre alt wurde, also länger als viele Menschen alt werden. In den 1960er-Jahren gehörte er sogar zu den besten Fußballern seines Landes, wurde in die Olympiaauswahl berufen und genoss die damals für japanische Verhältnisse höchst fortschrittliche und systematische Ausbildung des deutschen Trainers Dettmar Cramer. Später wurde er Offizieller im nationalen Fußballverband.
Dass Mutsuhiko Nomura einen ernsthafteren Zugang zu Fußball hat, merkt man auch daran, wie er über das Spiel redet: "Wir spielen im 4-3-3, da bin ich im Mittelfeld im Zentrum, komme aber eher von hinten, weil ich die Übersicht habe. Trotz meines Alters bewege ich mich auch noch gut", sagt er, und das helfe im Mittelfeld natürlich. "Aber auch wenn wir verlieren, bringt alles trotzdem sehr großen Spaß!" Fußball sei sein Leben gewesen, fügt Nomura lächelnd hinzu, und das werde es auch bleiben. "Durch Fußball hab‘ ich alles Mögliche für das Leben gelernt."
Viele der sehr alten Kicker sagen an diesem Nachmittag etwas Ähnliches. Und trotz ihres fortgeschrittenen Alters schauen sie gemeinsam nicht nur nach hinten, sondern auch nach vorn. Ihr nächstes Projekt ist es, bald eine WM der Supersenioren zu veranstalten. In der Altersklasse Ü70 seien diese Überlegungen schon fortgeschritten, heißt es, denn da gebe es auch in anderen Ländern genügend fitte, ältere Menschen. In der Klasse Ü80 werden allerdings noch einige Jahre vergehen müssen, bis sich Japan mit der Welt messen kann. Bisher spielt man hier ohne Konkurrenz.