Beim Training im Stadion auf der Waldau kommt schnell zum Vorschein, wer bei der Schweizer Nationalmannschaft vorangeht. Die Rasenfläche am Fuße des Fernsehturms im Stuttgarter Stadtteil Degerloch mag nicht die beste sein, aber einen Granit Xhaka hat das trotzdem nicht daran gehindert, das recht ramponierte Grün als erster Akteur zu betreten. Kurz darauf jonglierte der Kapitän die Kugel mit drei Kollegen am Anstoßkreis. Wenn der Ball hier schon nicht richtig rollt, weil der frisch verlegte Untergrund einige Unebenheiten aufweist, bleibt das Spielgerät halt in der Luft. Erst viel später ist Xherdan Shaqiri an jenem Vormittag aus der Kabine geschlendert. Mit Beinen breit wie sein Grinsen.
Xhaka hat mit Bayer Leverkusen eine überragende Saison gespielt
Der 31 Jahre alte Xhaka und der ein Jahr ältere Shaqiri sind unverwechselbare Identifikationsfiguren der „Nati“; und die Zeiten ja längst vorbei, dass diese Heißsporne mit umstrittenen Jubelkisten fast eine halbe Staatskrise heraufbeschworen haben. Rekordmann Xhaka (125 Länderspiele/14 Tore) gibt den unumstrittenen Anführer, Shaqiri (123/31 Tore) das eigentümliche Unikat. Der eine für die Strategie, der andere für die Magie. Der Mittelfeldspieler Xhaka war bei Bayer Leverkusen wohl auch körperlich nie besser in Form als in der abgelaufenen Saison; bei dem in die Major League Soccer in die USA übergesiedelten Stürmer Shaqiri trifft das nach erstem Augenschein nicht zu. Seine Erscheinung: quadratisch, praktisch – aber auch noch gut?
Shaqiri empfindet Fragen nach seiner Fitness als ehrverletzend
Spötter würden behaupten, die Eidgenossen wollen mit einem Ailton 2.0 auf deutschem Boden reüssieren. Ein kräftiger Kerl mit Oberschenkeln wie früher nur Gerd Müller. Trotzdem hat das zwischen 2012 und 2015 beim FC Bayern angestellte Kraftpaket die Frage nach seinem Fitnesszustand auf einer Pressekonferenz vor dem EM-Auftakt gegen Ungarn (Samstag 15 Uhr/MagentaSport) als ehrverletzend empfunden. „Es ist fast peinlich, diese Frage beantworten zu müssen. Jeder Spieler, der in die Nationalmannschaft kommt, kann und will spielen – und zwar über die volle Distanz. Kein Mensch sollte nur für die Hälfte der Zeit zur Arbeit erscheinen.“
Sein Trainer Murat Yakin lobt ihn zwar als Unterschiedsspieler („Niemand hat einen so genialen Fuß wie er“), traut ihm allerdings zwei Spiele in vier Tagen nicht mehr zu. „Hat er das wirklich so gesagt? Die Antwort dazu habe ich gegeben: Ich bin hier bei der Nationalmannschaft, weil ich möglichst viel spielen will“, entgegnete Shaqiri.
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Damit hoch oben über dem Talkessel der Landeshauptstadt erst gar keine Missverständnisse aufkamen, stellte der inzwischen bei Chicago Fire kickende Individualist klar, dass er sich mit dem Nationalcoach natürlich austausche. Man werde bei der EM noch sehen, was passiert. „Wenn ich von der Bank kommen sollte, bin ich bereit, so dem Team zu helfen. Ich bin auch hier, um den Jungen zu helfen, mit dem Druck umzugehen. Es ist egal, wie lange man auf dem Platz steht – im Nati-Trikot gibt man immer alles. Ich bin nicht zur EM gereist, um Ferien zu machen.“ Na also.
Die Offensive gilt als Schwachstelle der Schweizer Nationalmannschaft
Zumal der 1,70-Meter-Mann mit offiziell 72 Kilo Kampfgewicht wohl in Köln in der Startelf gebraucht wird. Die Offensive gilt als größte Baustelle. Topangreifer Breel Embolo, der frühere Schalker und Mönchengladbacher, wird nach einer Verletzungspause noch aufgebaut und soll wohl erst im dritten Gruppenspiel gegen Deutschland in Frankfurt (23. Juni) zum Faktor werden. Vorher kann sich Shaqiri austoben, der sein siebtes großes Turnier spielt. Aufgrund dieser Erfahrung hält er wenig vom Gerede über die beste „Nati“ aller Zeiten: „Dafür fehlt uns der große Exploit – vor drei Jahren waren wir ganz nah dran am Halbfinale.“
Getragen von der Aufholjagd gegen Frankreich und dem Achtelfinalsieg im Elfmeterschießen gegen den Weltmeister schaffte es das Ensemble auch gegen Spanien im Viertelfinale bis in die Elfmeterlotterie, wo allerdings Fabian Schär, Manuel Akanji und Ruben Vargas das Glück verließ. Aus der Traum. Also klammert sich vieles doch wieder an Xhaka und Shaqiri, die es 2011 mit ihrer U21-Nationalmannschaft mal bis in ein EM-Finale schafften. Das alles ist längst Vergangenheit – die Gegenwart ist ein vermutlich unbequemer Gegner zum EM-Start 2024. „Viele unterschätzen die Ungarn“, warnte Shaqiri. „Ich erwarte ein schwieriges Spiel, einen intensiven Kampf.“ Womöglich wieder mit vielen Bällen in der Luft.