Nicht mal die Abkühlung von oben störte in der Nacht zu Montag die spanischen Feierlichkeiten auf den unteren Tribünenrängen des Kölner Stadions. Die Anhänger der „Furia Roja“ hatten jedenfalls einen Heidenspaß daran, im Sommerregen zu den Klängen „Mi Gran Noche“ ihres Schlagersängers Raphael zu tanzen. Der Ohrwurm aus dem Jahre 1968 illustriert gerade, welche Sehnsüchte die spanische Nationalmannschaft bei ihrer Mission durch deutsche Stadien begleiten. „Qué pasará? Qué misterio habrá? Puede ser mi gran noche“. Übersetzt: „Was wird passieren? Welches Geheimnis wird es geben? Es kann meine große Nacht werden!“
Deutschland gegen Spanien könnte auch ein WM-Finale sein
Der nächste große Abend steht in Stuttgart bevor, wenn sich Deutschland und Spanien im Viertelfinale (Freitag, 18 Uhr/ARD und MagentaTV) eigentlich viel zu früh begegnen. „Das nächste Spiel könnte ein Finale sein, nicht nur bei einer EM, sondern auch bei einer WM“, hielt Nationaltrainer Luis de la Fuente ohne Umschweife nach dem Achtelfinalsieg gegen Georgien (4:1) fest. Ihm hatte der vierte Sieg im vierten EM-Spiel so gefallen, dass der 63-Jährige gleich den größten Bogen spannte. „Ich weiß, dass wir mit Deutschland einer Fußballmacht gegenübertreten. Ich finde, dass wir die beste Mannschaft der Welt haben. Wir haben die besten Spieler, aber das heißt nicht, dass wir gewinnen.“
Der Schlüssel zur spanischen Verwundbarkeit liegt in der Defensive: Ob Robin Le Normand und Aymeric Laporte in der Abwehrzentrale unter Druck so stabil stehen wie einst die Haudegen Carles Puyol, Sergio Ramos oder Gerard Piqué, ist erst noch zu beweisen. Der eine produzierte das nächste Eigentor dieser EM, der andere spielt mit 30 Jahren in Saudi-Arabien. Und ob Torwart Unai Simón über eine Endrunde so verlässlich agiert, wie einst Iker Casillas, gilt auch nicht als gesichert. Diese Truppe hat – und das ist der Unterschied zur mit drei Titeln gekrönten Generation um Xavi Hernández – ihre Stärken im Spiel nach vorn.
Zwei dreifache Europameister treffen aufeinander
Fakt ist: Zwei dreifache Europameister werden sich auf dem höchsten Niveau, was Spielfreude und Offensivgeist angeht, begegnen. Vieles in der Ausrichtung weist wieder Parallelen auf, zumal sich auch das spanische Spiel- und Selbstverständnis in titelreifen Sphären bewegt. Ihr Nationalcoach hat 2019 schon mit der U21 ein Finale gegen die Deutschen gewonnen. Der mit seiner Delegation im schwäbischen Donaueschingen untergebrachte Fußballlehrer will ausdrücklich „noch drei Spiele“ bestreiten. Alles soll erst am 14. Juli im Berliner Olympiastadion in einer himmlischen Finalnacht enden, in der sich wie bei einem Gewitter alles entlädt, was sich an Frust angestaut hat. Das ist unter dem Dach der Real Federación Española de Fútbol (RFEF) eine ganze Menge.
Die Männer vermasselten die letzte WM mit dem Achtelfinalaus gegen Marokko, den Frauen verweigerte der eigene Verbandspräsident nach dem gewonnenen WM-Finale mit dem Kussskandal die Anerkennung. Inzwischen ist Luis Rubiales zwar Geschichte, aber nicht alles an Vorwürfen ausgeräumt. Insofern kann zur Ablenkung nicht Besseres passieren, als wenn sich mal wieder spielerische Leichtigkeit entfaltet. Am Sonntag führten vor dem Spiel auf den Kölner Stadionwiesen die Töchter und Söhne aus spanischen Familien erstaunliche Ballfertigkeiten auf, ehe ihre Idole auf dem Stadionrasen brillierten. De la Fuente referierte zu mitternächtlicher Stunde so beschwingt über die vielen Talente, weil sein spannendes Ensemble erstmals einen Widerstand überwand. Die mangelnde Reife kam in dieser Phase zwar deutlich zum Vorschein, ehe Anführer Rodri mit einem präzisen Flachschuss kurz vor der Pause die Dinge persönlich regelte.
Musiala und Wirtz treffen auf Yamal und Williams
Was Jamal Musiala und Florian Wirtz für Deutschland sind Lamine Yamal und Nico Williams für Spanien. Wieselflinke Individualisten, die kurz vor dem Finale ihren 17. und 22. Geburtstag feiern und gerade kaum einzufangen sind. Mitunter wollen beide noch viel zu viel, und im Abschluss hat speziell der beim FC Barcelona so gefeierte Yamal noch ganz viel Luft nach oben. Aber selbst der strenge Rodri will seine Spaßkicker nicht bremsen. „Sie sind jung, manchmal sind sie naiv, aber uns tun sie gut.“ Mit ihrem Draufgängertum und Trickreichtum, mit ihrer Unbekümmertheit und Unberechenbarkeit. Zudem stehen die beiden ja meist an den Flügeln, sie können im zentralen Teil also nicht so viel Unheil anrichten. Bevor die beiden zu später Stunde am Sonntag noch „Schnick, Schnack, Schnuck“ spielten, um auszuknobeln, wer zuerst aus der Wasserflasche trinken darf, hatte der filigrane Yamal die Kugel vor dem 2:1 auf den Kopf von Luiz Fabián gelegt, war der flinke Williams zum 3:1 gestürmt. Zur formvollendeten Überleitung aufs Duell gegen Deutschland setzte der eingewechselte Dani Olmo mit dem 4:1 den Schlusspunkt.