Werder Bremens Torhüter Michael Zetterer staunte. Knapp eine Stunde war in der Bundesligapartie gegen den 1. FC Köln gespielt, als plötzlich ferngesteuerte Spielzeugautos neben ihm landeten, sogleich losdüsten und sich wiederholt wild überschlugen. Was Kinder begeistert, nervte auf dem Rasen des Kölner Stadions die Ordner. Teils unbeholfen versuchten sie, die quietschbunten Spielzeuge einzufangen. Tennisbälle und Schokoladentaler waren das Sicherheitspersonal nach Wochen anhaltender Fanproteste gewohnt, auch Zetterer hätten diese Gegenstände in seinem Strafraum kaum mehr überrascht als ein herein segelnder Flankenball. Doch ferngesteuerte Autos?
Womöglich waren es diese Bilder, die den letzten Anstoß gaben, die die Bosse der Deutschen Fußball Liga (DFL) in der vergangenen Woche endgültig zum Umdenken bewegten und zum Handeln zwangen. Sie ahnten, dass Spielabbrüche unabdingbar würden, sollte es in diesem Stil weitergehen. Wer glaubte, die aktive Fanszene würde der Proteste müde und ihr Widerstand gegen den Einstieg eines Liga-Investors würde abebben, sah sich getäuscht. Stattdessen hatte der harte Fankern der Profiklubs den Druck und den Nervfaktor stetig erhöht. Zwölfminütiges Schweigen, Beschimpfungen und Banner hatten wenig bewirkt, erst als der Ligaverband sein Geschäft in ernsthafter Gefahr sah, lenkte er ein.
Der Deal mit Investoren für die Bundesliga ist endgültig geplatzt
Die DFL-Geschäftsführer Marc Lenz und Steffen Merkel hatten bis zuletzt für die Pläne geworben, sich mit einem externen Geldgeber zukunftsfähig zu machen. Doch in der vergangenen Woche musste Hans-Joachim Watzke, der Vorsitzende des Präsidiums, zähneknirschend verkünden, dass der Deal endgültig geplatzt ist. Eine Niederlage für die DFL, ein womöglich wegweisender Erfolg für die Ultras. Oder eine Machtdemonstration, die die aktive Anhängerschaft anstiftet, noch vehementer gegen die fortschreitende Kommerzialisierung im Profifußball anzukämpfen? Ebnet der verhinderte Investoreneinstieg den Weg zu grundlegenden Veränderungen im deutschen Fußball? Fliegen bald Tennisbälle, um den Videobeweis zu Fall zu bringen?
Einer, der sich seit Jahren mit der Fankultur im Allgemeinen und mit der Ultrabewegung im Speziellen auseinandersetzt, ist Jonas Gabler. Mit seinem Buch "Die Ultras – Fußballfans und Fußballkulturen in Deutschland" erhielt er einst bundesweite Aufmerksamkeit. Der Politikwissenschaftler aus Berlin erklärt, wie eine verhältnismäßig kleine Gruppe den Investoreneinstieg verhindern konnte. "Sie haben ein anschlussfähiges Thema gefunden, das zu einer breiten öffentlichen Debatte geführt hat", sagt Gabler.
Das Aufbegehren gegen Obrigkeiten sei für Ultras ein sinnstiftendes Element. "Die Ultra-Kultur ist schon immer eine Protestkultur", erklärt Gabler. Zu beobachten ist das in beinahe jedem Spiel, auf großflächigen Bannern oder in Sprechchören werden Meinungen geteilt. Wenn die Szene Polizeigewalt und Stadionverbote kritisiert oder die Legalisierung von Pyrotechnik fordert, kämpft sie für ihre eigenen Interessen. Diesmal jedoch erreichte sie eine mehrheitsfähige Masse. Zudem hatten die Ultras mit ihren gelben Bällen eine Protestform gewählt, die niemandem wirklich weh tat. Aus unterschiedlichen Gründen sei die Solidarität in allen Fanorganisationen, teils sogar in den Vereinen, groß gewesen, bekräftigt Gabler. Der Insider wagt keine endgültige Prognose, glaubt aber, dass die Ultras die breite Solidarität schnell verloren hätten, hätten sie tatsächlich für Spielabbrüche gesorgt. Zweifelsohne haben die Ultras als Sprachrohr der Fans Sympathien gesammelt, so Gabler, an einen grundlegenden Imagewandel der Szene glaubt er aber nicht.
Das verhindern allein die vielen Strömungen, die sich innerhalb der Ultrabewegung finden. Politisch rechts, politisch links, gewalttätig, gemäßigt, gesprächsbereit und offen oder unzugänglich und verschlossen: Den einen Ultra gibt es nicht. Alle eint ihre Liebe zum Klub, ihre leidenschaftliche Unterstützung, auch ihr soziales Engagement, das Augsburger Ultras etwa in der Hilfe für Flutopfer im Ahrtal zeigten. Spieltage sind Festtage. Bedingungslos anfeuern, aufwendige Choreografien inszenieren, Stimmung machen – das können sie.
Über Jahrzehnte hinweg verfestigte sich außerhalb der Szene jedoch ein pauschales Bild: von Ultras, die Bengalos schwenkend den Platz stürmen; von Vermummten, die Fackeln auf den Rasen schleudern und Rauchbomben zünden; von Krawallmachern, die sich prügeln; von Heerscharen von Polizisten, die an jedem Wochenende für Sicherheit sorgen müssen.
Jüngst gingen Hardcore-Fans des FC Augsburg und des FSV Mainz 05 aufeinander los, nach dem Europapokal-Aus wollten Hooligans von Eintracht Frankfurt den Gästeblock stürmen. Reflexartig fordern Politiker dann härtere Strafen, Vereine bewegen sich zwischen den Fronten, Fans reagieren mit Protest und Grenzübertritten. Gewalt, Stehplatzverbote, Einlasskontrollen, Bürgerrechte – alles wird wild miteinander vermischt.
Inzwischen wird nicht mehr nur über negative Erscheinungen und Auswüchse berichtet, sondern öffentlich ein bedeutend ausgewogeneres Bild gezeichnet. Einst nahmen die Ultras die Medien als Erfüllungsgehilfen der Obrigkeiten wahr. Mit Journalisten zu sprechen, war verpönt. Seitdem sie sich öffnen und kommunizieren, wird auch von der Boulevardpresse kaum noch das Klischee des saufenden und prügelnden Proleten bedient. Pauschalurteile fallen weg, Betrachtungen sind differenzierter. Die Wortführer sind klug, eloquent und gehen taktisch vor.
Die Ultras im Fußball handeln aus Eigennutz
Führende Ultras bestätigen den Kurswechsel. Dass man aus Eigennutz handle, daraus macht keiner einen Hehl. Wenn man Meinungen platzieren wolle, würden die Medien als Plattform benutzt, bestätigt Fanforscher Gabler ebenso unserer Redaktion wie ein Insider aus der Ultra-Szene. Zudem haben sich die Ultras allgemein eine geordnetere Struktur verpasst, in Augsburg etwa sind sie im "Ulrich-Biesinger-Tribüne e. V." organisiert.
In allen Bundesligastadien feierten die Ultras an diesem Wochenende ihren Erfolg gegen die DFL, "Spiel, Satz und Sieg" prangte etwa in Berlin auf einem Plakat. Euphorie löste die DFL-Entscheidung aber keine aus. Geradezu nüchtern wird analysiert, was über Wochen und Monate hinweg extrem emotional diskutiert worden war. Die DFL habe sich über demokratische Grundsätze hinweggesetzt und eine rote Linie überschritten, der Protest sei unausweichlich gewesen, die Absage an den Investor die einzig logische Konsequenz, so der Tenor. Sonst wäre der "deutsche Weg" mit der 50+1-Regel ausgehebelt worden. Zum Hintergrund: Die sogenannte 50+1-Regel garantiert den Klubs die Entscheidungshoheit in der Liga. Die Mitglieder hatten in den Vereinen entschieden, wie ihr Vertreter auf der DFL-Sitzung über den Investoreneinstieg abstimmen sollte. Ob dafür oder dagegen. Der Deal soll nur deshalb zustande gekommen sein, weil sich Hannovers Präsident Martin Kind in geheimer Abstimmung gegen das Votum seiner Mitglieder und für den Einstieg entschieden haben soll. Kind selbst schweigt dazu.
Die Ultras werden ihren Kampf gegen die Kommerzialisierung fortsetzen. Dass sie ihn gewinnen, diese Illusion machen sie sich nicht, heißt es aus Insiderkreisen. Montagsspiele haben sie mal wegprotestiert. Aber Winterweltmeisterschaften in Katar werden sie auch in Zukunft ebenso wenig verhindern können, wie horrende Ablösesummen oder zerstückelte Spieltage mit unterschiedlichen Anstoßzeiten über drei Tage verteilt. Den Kampf allerdings werden sie nicht aufgeben. Dafür ist der Protest zu sehr in ihnen verankert. Weiteres Beispiel: der Videobeweis, den die Ultras in Stadien mit dem Wechselsprechchor "Scheiß DFL" kommentieren. Im Video Assistent Referee (VAR) sehen die Ultras das Potenzial erneut eine große Öffentlichkeit zu erreichen. Zugleich sind sie sich bewusst, dass sie jetzt nicht bei jedem Thema Tennisbälle auf den Rasen werfen können, berichtet ein Ultra, der seinen Namen nicht lesen möchte. Für sie entscheidend: die demokratische Legitimation. Zunächst müssten die Mitglieder sich in den Klubs gegen den VAR entscheiden, sagt der Fan, danach könnte sich die DFL damit auseinandersetzen.
Was den Ultras bleibt, ist der Protest, für den die Gesellschaft allgemein empfänglicher geworden zu sein scheint. Das Bewusstsein, eine kleine Gruppe mit lauter Stimme zu sein, ist unter den Ultra-Gruppierungen ausgeprägt. Verwunderlich wäre es, würden Prinzipien über den Haufen geworfen, um plötzlich einer breiten Masse zu gefallen. Ein Ultra drückt es so aus: "Wir wollen gar nicht Everybody's Darling sein." Wenn eine Hundertschaft schwarz gekleideter, teils vermummter Männer auftritt, mag das der Kleiderordnung entsprechen, wirkt aber extrem einschüchternd. Der eigene Fanblock im Stadion wird weiterhin als Revier gesehen, in dem eigene Gesetze gelten und Sicherheitsdienst sowie Polizei nichts zu melden haben. Spannungsfelder werden bleiben.
Seit der Corona-Pause sind die Bengalos überall
Wenn man so mag, wird nach den Protesten gegen den Investoreneinstieg Normalität in den Stadien einkehren. Zu der weiterhin das Abbrennen verbotener Pyrotechnik zählen wird. Fans werden im Wortsinn mit dem Feuer spielen, das DFB-Sportgericht wird Geldstrafen verhängen, die Vereine werden brav zahlen. Am Sonntag zündeten Freiburger Fans allein im Augsburger Stadion knapp 20 bengalische Feuer. Jede einzelne Fackel wird den SC 1000 Euro Strafe kosten.
Die Kurven brennen seit der Rückkehr in die Stadien nach der Coronapause. Fanforscher Jonas Gabler erklärt es damit, dass nach der Pandemie das Bedürfnis groß gewesen sei, "die Sau rauszulassen". Man lasse sich nichts verbieten und halte sich nicht an Regeln, beschreibt er. Bengalische Fackeln sind ein Stilmittel und Teil der Folklore in der Ultraszene. Eine Form des Protests sind sie nicht. Ganz anders als ferngesteuerte Autos.