Wer das Stadion des 1. FC Heidenheimüber die Logen betritt, dessen Blick könnte an einem daumendicken Wälzer haften bleiben, der dort im Eingangsbereich liegt. Im Branchenbuch des Zweitligisten sind alle Sponsoren des Klubs aufgeführt. Es sind einige. Über 430 Seiten sind die Unternehmen nach Branchen aufgelistet. Insgesamt sind es über 500 Firmen, die den Verein unterstützen. Die meisten davon kommen aus der Region. Es gibt große Geldgeber wie den Trikotsponsor, die Beratungsfirma MHP aus Ludwigsburg oder die in Heidenheim ansässigen Unternehmen wie die Hartmann-Gruppe oder den Technologiekonzern Voith. Aber eigentlich wirbt gefühlt jeder im Umkreis des 50.000 Einwohner großen Städtchens mit dem FCH. Vorstandschef Holger Sanwald beschreibt das so: "Wir haben uns Schritt für Schritt die Region erarbeitet." Und die fiebert nun mit der Mannschaft von Trainer Frank Schmidt: Am Sonntagnachmittag kann Heidenheim mit einem Sieg beim SC Paderborn den Aufstieg in die Bundesliga klarmachen.
Ob es ein Märchen ist, was sich da anbahnt? Auf die Frage hin schränken auch die meisten Heidenheimer ein: Das vielleicht schon, aber eben ein geplantes Märchen angesichts der stabilen Arbeit auf der Geschäftsstelle und auf dem Rasen. Zu sagen, dass der Erfolg des FCH aus dem Nichts kommt, ist wiederum falsch und richtig zugleich: Falsch, weil im Verein eben seit Jahrzehnten solide gearbeitet wird – richtig, weil Holger Sanwald an seinem ersten Arbeitstag tatsächlich vor dem Nichts stand. Der 56-Jährige, im Nachbarort Giengen geboren und in Heidenheim aufgewachsen, ist seit 1995 der starke Mann im Verein. Mit gerade mal 27 Jahren setzte er sich in einer Kampfabstimmung durch. Für ihn, der kurz zuvor an der Uni Augsburg sein BWL-Studium abgeschlossen hatte, sprach sein kaufmännisches Verständnis, seine Vergangenheit als Landesliga-Stürmer. Was noch? "Ich konnte schon immer gut mit Menschen. Und ich wollte nicht, dass es mit dem Heidenheimer Fußball zu Ende geht", erinnert sich Sanwald heute.
Heidenheim-Boss Holger Sanwald: "Wir hatten keine Sponsoren, kein Geld, keine gute Mannschaft"
Das Aus – dieses Szenario drohte dem Heidenheimer Sportbund, wie der Klub damals noch hieß. "Als ich hier anfangen habe, hatten wir faktisch fast keine Sponsoren, kein Geld, keine gute Mannschaft." Dabei sei doch eigentlich mehr drin, in dieser wirtschaftlich starken Region. Sanwald, der damals noch bei der Hartmann-Gruppe arbeitete, putzte Klinken, verkaufte die ersten Sponsoren-Pakete und stellte einen Plan auf: Die Oberliga sollte das Ziel werden. "Mir war klar: Ich muss ein paar positiv Verrückte finden, die mir vertrauen." Er fand sie. Nach zehn Jahren gelang der Aufstieg. "Dann haben wir uns angeschaut: Und was machen wir jetzt? Dann haben wir ein neues Konzept aufgestellt, diesmal mit dem Ziel 2. Liga. Das haben wir natürlich für uns behalten, wir wollten ja nicht als größenwahnsinnig gelten." Das war 2004 – und bei jedem Aufstieg in die nächsthöhere Liga schien klar zu sein: Das war es jetzt aber mal wirklich mit diesen Emporkömmlingen aus Heidenheim.
Stattdessen nahm der Verein Hürde um Hürde, baute den Sportplatz zu einem 15.000 Zuschauer fassenden Stadion aus, das dem Klub mittlerweile auch gehört. In dem Stadion, das mit einer Lage von 555 Metern über NN die höchstgelegene Spielstätte der Bundesliga-Geschichte sein könnte, finden auch längst nicht nur Fußballspiele statt. Die Arena ist buchbar für Familienfeiern, Tagungen, Jahreshauptversammlungen. An 250 Tagen im Jahr finden Veranstaltungen statt. Heidenheim ist fleißig, Heidenheim ist bescheiden - und Heidenheim verlässt seinen Weg nicht. Die Spieler, die für den FCH spielen, sollen idealerweise aus der Region stammen, im aktuellen Kader spricht jeder Kicker deutsch.
Der Heidenheimer Frank Schmidt ist seit 16 Jahren Trainer des FCH
Es ist ein Konzept, das sich seit Jahren auszahlt. Denn trotz aller Unterstützung von Sponsoren liegt Heidenheim mit seinem Gesamtetat von 40 Millionen Euro nur im Mittelfeld der Liga, muss am Saisonende stets seine Leistungsträger zur Konkurrenz ziehen lassen. Das war auch vor dieser Saison so. Für die offenen Planstellen im Mittelfeld verpflichtete der Verein etwa Jan-Niklas Beste von Werder Bremen II oder Lennard Maloney vom BVB II – und beide gehören zu den besten Spielern der Zweitligasaison, sind von Beginn an unumstrittene Stammspieler. Worin diese Trefferquote liegt? Natürlich auch am Heidenheimer Modell, wie Sanwald ausführt: "Ich weiß schon sehr genau, welcher Spielertyp bei Frank Schmidt funktioniert und welcher nicht. Ich kenne ihn in- und auswendig. Und dann ist die Gefahr, dass man etwas macht, was nicht passt, äußerst gering. Jeder Spieler, der hierher kommt, weiß, dass Frank Schmidt Trainer bleiben wird, das ist auch ein Riesenvorteil. Es gibt ein klares Anforderungsprofil, klare Erfahrungswerte. Deswegen können wir mit geringeren Mitteln wettbewerbsfähig sein."
Schmidt und Sanwald kennen sich seit frühesten Tagen. Auch der Trainer ist Heidenheimer, wurde im Krankenhaus neben dem Stadion geboren und von Sanwald noch als Spieler in der Verbandsliga verpflichtet. Aktuell ist er seit 16 Jahren beim FCH und damit dienstältester Trainer im deutschen Profifußball, noch vor FreiburgsChristian Streich, der "erst" elf Jahre im Amt ist. Dass Spieler genau unter die Lupe genommen werden, habe auch mit der Geschichte zu tun, so Sanwald: "Wir mussten uns das zu hart erarbeiten, als dass wir was zu verplempern haben." Zudem sei es ein Vorteil, dass jeder Spieler wisse: Der Trainer in Heidenheim heißt Frank Schmidt - und das wird auch so bleiben.
Von diesem Weg will der Klub nicht abweichen, auch wenn das als weltfremd abgetan wird. Sanwald erinnert sich an ein Schlüsselerlebnis: "Irgendwann in der 3. Liga rief mich ein Berater an und bot mir Spieler von überall an. Ich habe gesagt: Das ist nicht unser Weg, nicht unser Stil. Dann hat er mir geantwortet: Dann haben Sie keine Chance. Da habe ich erstmal geschluckt. Ich habe gesagt: Vielleicht haben Sie Recht, aber dann würden wir das akzeptieren. Und am Ende der Saison wären wir beinahe in die 2. Liga aufgestiegen."
Jetzt also erste Liga. Für Sanwald ist es nichts weniger als eine "Lebenschance für unsere gesamte FCH-Familie", die sich nun bietet. Sieht auch das Umfeld so, das geschlossen hinter dem Verein steht. "Jeder fiebert auf die Bundesliga hin. An Spieltagen sehen wir Autokennzeichen aus Aalen, Ulm, Donauwörth, Günzburg, Dillingen." Ändern soll sich an der Herangehensweise nichts, auch wenn es am Ende mal wirklich in die Hose gehen sollte, so Sanwald: "Ich weiß nicht, ob wir mit diesem Konzept in der Bundesliga bestehen können, wenn wir es schaffen aufzusteigen. Aber wir würden unserem bisher eingeschlagenen Weg auf jeden Fall treu bleiben." Ab und an müsse er sich schon zwicken, sagt er und lacht: "So richtig real kommt mir das nicht vor. Allein, dass der große HSV jetzt unser größter Konkurrent ist – das ist doch irre."