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Berlin
Abenteurer auf der Achterbahn: Southgate vor Happy End
Verlierer, Buhmann, Spottfigur: Gareth Southgate hat viel durch in seinem Fußball-Leben. Nun könnte er eine Nation beglücken, die seit mehr als einem halben Jahrhundert auf einen großen Titel wartet.
Englands Trainer Gareth Southgate       -  Musste vor und während der EM viel Kritik einstecken: Gareth Southgate.
Foto: Marius Becker/dpa | Musste vor und während der EM viel Kritik einstecken: Gareth Southgate.
Patrick Reichardt und Thomas Eßer, dpa
 |  aktualisiert: 17.07.2024 02:42 Uhr

Dass Gareth Southgate bei dieser Fußball-EM mal noch als „rücksichtsloser Abenteurer” bezeichnet wird, hätte er wahrscheinlich selbst nicht gedacht. Abgesehen von seiner eigenen Mannschaft hatte der Trainer der englischen Nationalmannschaft eigentlich schon alle gegen sich: die Medien, die Experten in England, die Experten in Deutschland, die Fans. Letztere ließen zum Abschluss einer extrem biederen Vorrunde sogar Bierbecher in Richtung von Southgate fliegen.

Mit dem mitreißenden 2:1 im Halbfinale gegen die Niederlande, bei dem er sowohl den Siegtorschützen Ollie Watkins als auch Vorbereiter Cole Palmer einwechselte, scheint sich der Trainer endgültig rehabilitiert zu haben. Der „Technokrat” war gestern, der „Abenteurer” ist heute. Als „verwirrend, aber brillant” bezeichnete der „Guardian” die Entscheidungen von Southgate, der England ins erste große Finale außerhalb der britischen Insel führte. Gegen Spanien ist am Sonntag (21.00 Uhr/ARD und MagentaTV) die erste Titel-Krönung seit 1966 möglich.

Große Erfolge, wenig Respekt

Was Verbandspräsident Prinz William vor der Abreise des Teams nach Deutschland prophezeit hat, hat sich bewahrheitet. „Er sagte, dass es eine Achterbahnfahrt wird und dass dieses Turnier einfach brutal ist”, erzählte Mittelfeldspieler Declan Rice über die Worte von William. Mittendrin auf der Achterbahn: Der pragmatische Cheftrainer Southgate, den manche Fans am liebsten noch vor dem Achtelfinale ersetzt hätten. Und der ihnen jetzt, nach drei harten K.-o.-Spielen mit großer Moral, den Silberpokal in die Heimat bringen könnte.

Southgate ist der erfolgreichste englische Chefcoach seit Weltmeister-Macher Alf Ramsey. Gemessen daran bekommt der 53 Jahre alte Ex-Profi auf der Insel extrem wenig Respekt. Die Anhänger vermissen die spielerischen Glanzleistungen, Experten kritisierten regelmäßig seine vorsichtige Herangehensweise. Das Milliardenensemble könne so viel mehr, so lautet der Hauptvorwurf in Richtung von Southgate.

„Würden alles tun, um ihn zu schützen”

Das Team steht geschlossen hinter dem Mann, der 2016 übernahm und England seither stets mindestens ins Viertelfinale führte. Das gelang in diesem Zeitraum keiner anderen Nation aus Europa. „Wir würden alles tun, um diesen Trainer zu schützen”, sagte Rice nach dem Achtelfinale gegen die Slowakei, das nur dank eines Fallrückziehers von Jude Bellingham in der fünften Minute der Nachspielzeit nicht verloren ging. Southgate war zu diesem Zeitpunkt noch etwa 90 Sekunden vom Ende der achtjährigen Ära entfernt.

Luke Shaw äußerte sich ähnlich wie Rice. „Ich verstehe die Kritik an ihm nicht. Er hat so viel für unser Land und uns Spieler gemacht, er hat uns Profis auf ein neues Level gehoben. Kein Trainer war in der jüngeren Vergangenheit so erfolgreich wie er”, sagte der Außenverteidiger, der als Vertrauter von Southgate gilt. Der Trainer pflegt zudem vor allem mit seinen langjährigen Weggefährten wie Kapitän Harry Kane, Torhüter Jordan Pickford und Innenverteidiger John Stones ein inniges Verhältnis.

Die Frage nach seiner Zukunft schwebt aber weiter über dem Team. Zumindest seitens des Verbands scheint die Richtung klar: Die FA will nach Angaben des „Telegraph” mit Southgate verlängern - und zwar unabhängig vom Ausgang des Spiels gegen Spanien. Verbandsboss Mark Bullingham gilt als großer Befürworter von Southgate, der noch einen Vertrag bis Ende des Jahres hat.

Die fünf verbleibenden Monate sind aber eher theoretischer Natur. Entweder Southgate geht nach der EM und macht den Weg frei für einen Neuaufbau. Oder der 53-Jährige bleibt und setzt seine Amtszeit fort - dann aber gewiss nicht nur bis Dezember, sondern bis einschließlich zur WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko. Es sei für ihn emotional unmöglich, im Moment eine „logische Entscheidung” zu treffen, sagte Southgate im Sky-Interview.

Southgate-Abgang auch im Titelfall?

Vor dem Turnier hatte sich Southgate in einem Interview mit internationalen Medien, zu denen auch die „Bild” und die „Süddeutsche Zeitung” zählten, relativ offen zu dem Thema geäußert. „Wenn wir nicht gewinnen, werde ich wahrscheinlich nicht mehr hier sein. Dann war es vielleicht die letzte Chance. Ich glaube, nach einem Turnier geht in etwa die Hälfte der Nationaltrainer – das liegt in der Natur des internationalen Fußballs”, sagte Southgate. 

Er könne sich nach acht Jahren nicht ständig hinstellen und um weitere Chancen bitten. Wegen der Schärfe der Kritik und infolge einer über weite Strecken holprigen EM ist ein Abgang von Southgate aber auch bei einem Titelgewinn eine realistische Option.

 

Held oder Depp: Southgate ist es aus seiner Zeit als Profi gewohnt, nach großen Spielen in extreme Schubladen einsortiert zu werden. Dies setzte sich als Trainer in den vergangenen knapp acht Jahren fort. Ein Blick auf große Partien des Engländers, die fast immer etwas mit Elfmetern zu tun hatten:

EM-Halbfinale 1996

Selten erlangte ein Profi so viel Prominenz für einen verschossenen Elfmeter wie Southgate. Der Verteidiger nahm den Spott nach dem Halbfinal-Aus im Elfmeterschießen gegen Deutschland sportlich und verarbeitete ihn in einer Pizza-Werbung, in der er sich an der Seite der 1990er-Fehlschützen Stuart Pearce und Chris Waddle veralbern ließ. Doch der Fauxpas bei der Heim-EM setzte ihm massiv zu.

„Der verschossene Elfmeter wird wohl der entscheidende Punkt in meiner Karriere bleiben. Viele Leute, die mich trösten wollten, haben gesagt: Wirst sehen, das geht vorbei. Aber es geht nicht vorbei. Mit welcher Leistung soll ich das ausgleichen?”, sagte Southgate einmal der „Süddeutschen Zeitung”. Am Sonntag wäre die ideale Gelegenheit.

WM-Achtelfinale 2018

1996, 1998, 2004, 2006 und 2012 verlor England fünf Elfmeterschießen in Serie. Dann kam Southgate - als Trainer. Er ging das Thema wissenschaftlich an und gründete eine Task Force, die sich unter anderem mit der Atemtechnik der Spieler befasste. Im WM-Achtelfinale gegen Kolumbien gab es nach 22 Jahren prompt erstmals wieder einen Sieg vom Punkt.

EM-Finale 2021

Doch die heile Elfmeterwelt hielt nicht lange. Und die Finalniederlage gegen Italien wurde dann direkt wieder Southgate angekreidet. Im Wembley-Stadion verschossen in Jadon Sancho, Bukayo Saka und Marcus Rashford gleich drei Profis beim Showdown. Pikant: Der Trainer hatte das Trio eingewechselt, Sancho und Rashford sogar erst in der 120. Minute und explizit fürs Elfmeterschießen.

WM-Viertelfinale 2022

England gegen Frankreich galt in Katar als das Duell von Europas Giganten. Die Three Lions hielten ordentlich mit, mussten sich aber nach einem verschossenen Elfmeter von Kapitän Kane in der regulären Spielzeit mit 1:2 geschlagen geben. Die Nation war sich schnell einig: Diesem Trainer gebührt das Vertrauen bis zur nächsten EM in Deutschland.

EM-Halbfinale 2024

Und bei diesem Turnier führte Southgate England nun ins dritte Finale der Landesgeschichte. Auf Ramsey 1966 folgten Southgate 2021 und Southgate 2024. Der Ex-Profi schaffte ein zweites Mal, woran Generationen vor ihm gescheitert sind. Entsprechend euphorisch gab er sich vor den rund 20.000 englischen Fans in Dortmund. „One more! One more!”, brüllte er in Richtung der Ränge. Noch ein Sieg - dann wäre sein Elfmeter aus dem Jahr 1996 endgültig in den Hintergrund gedrängt.

 

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