Der FC Augsburg feiert. Rund um das Spiel gegen Werder Bremen (Samstag, 27. April, 15.30 Uhr) wird mit mehreren Aktionen an die großartige Saison 1973/74 erinnert. Vor 50 Jahren hatte der FCA sensationell die Meisterschaft in der Regionalliga Süd geholt und nur knapp den Aufstieg in die Bundesliga verpasst. Auch wir wollen in einer Artikelserie auf diesen Erfolg eingehen. Den Auftakt macht heute ein Text von Franz Neuhäuser. Der langjährige ehemalige Leiter der Sportredaktion dieser Zeitung war als junger Fan mit dabei. Hier seine Erinnerungen.
Vorab: Ich gestehe. Ja, ich war das, was man einen Erfolgsfan nennt. Erst kein Interesse, dann plötzlich im Stadion, wenn es gut läuft. Und schnell wieder weg, sobald es bergab geht. So war ich. Aber ich war nicht allein so. Dazu gleich mehr.
Zunächst zum Anfang. 1969 fanden sich der BCA und die Fußballabteilung des TSV Schwaben zusammen. Ein revolutionärer Schritt, bedenkt man, dass es keine Liebesbeziehung war, dass es beiderseits Traditionalisten gab, die nie IHREN Verein, IHREN Namen, IHRE Geschichte aufgeben wollten. Aber da waren auch Vorwärtsdenker, die überzeugt waren: Wenn die zwei führenden Fußballvereine in Augsburg ihre Kräfte bündeln, dann entsteht daraus Großes.
Helmut Haller: Den Namen kannte jeder und jede
Tat es nicht. Zumindest nicht sofort. In seiner ersten Saison landete der FC Augsburg auf dem vierten Platz der damals drittklassigen Bayernliga. Hinter „Größen“ wie Wacker München, dem 1. FC Lichtenfels und der SpVgg Büchenbach. Wen wundert es: Das Zuschauerinteresse blieb übersichtlich.
Auch ich, damals gerade im Teenageralter angekommen, setzte andere Prioritäten. Erste Partys, erste Rockmusik-Konzerte, das Waldfreibad in meinem Wohnort Dinkelscherben … Und wenn beim Sport zuschauen, dann beim AEV. Das Eishockey-Team spielte Anfang der Siebziger in der Bundesliga gegen legendäre Kontrahenten wie den SC Riessersee, den EV Füssen, den EV Landshut, die Düsseldorfer EG … Das Curt-Frenzel-Stadion war voll, die Stimmung grandios.
Der FCA drängte erst 1973 in mein Leben. Aber da mit Vehemenz. In der vierten Saison in der Bayernliga war, endlich, endlich, der Durchbruch gelungen. Meisterschaft und Aufstieg in die Regionalliga Süd, damals die zweithöchste Liga. Was für mich und die bis dahin desinteressierte Mehrheit aber noch viel, viel wichtiger war: Helmut Haller kam aus Italien nach Augsburg zurück! Helmut Haller: Den Namen kannte jeder und jede. Helmut Haller: Den hatten wir im Fernsehen gesehen. Was das bedeutete, ist heute nur noch schwer vermittelbar. Liveübertragungen von Fußballpartien waren absolute Ausnahmen. Und bei diesen Festspielen war ein „Augschburger“ dabei! Einer von uns! Einer, der jetzt „für uns“ spielen sollte. Ein Geschenk des Fußballhimmels. Das musste man gesehen haben.
Über 90.000 Zuschauer sind 1973 beim Spiel des FC Augsburg im Münchner Olympiastadion
18.000, deutlich mehr als bisher, kamen zum Saisonauftakt am Sonntag, 12. August 1973, in das Rosenaustadion. Und waren begeistert. Von Helmut, vom FCA, vom 6:2 über den VfR Heilbronn. Drei Tage später, am Mittwoch, 15. August, hatten Zehntausende Augsburger die gleiche Idee: Nutzen wir doch den Feiertag Mariä Himmelfahrt. Fahren wir nach München. Schauen uns den FCA gegen 1860 München an. Im Olympiastadion. Im OLYMPIASTADION! Das allein schon eine Attraktion. Erst vor eineinhalb Jahren eröffnet. Und jetzt spielte da UNSER FCA. Wir müssen hin! Geschätzte 90.000 (über)füllten die Arena.
Ich war nicht dabei. Ich war Ferienarbeiter. Schuftete auch am Feiertag bei einem noch jungen Unternehmen namens Müller Milch in Aretsried … Als ich im September wieder in die Schule gehen durfte (ja, ich empfand es als Erlösung vom Fließbandjob), da gab es im Peutinger Gymnasium nur ein Thema: der FCA. Hast du gesehen? Warst du dabei?
Helmut Haller verwandelte jeden Freistoß für den FCA – gefühlt
Ja, selbstverständlich ging auch ich jetzt hin und sah zu. An einzelne Spiele kann ich mich heute kaum mehr erinnern. Mir ist vor allem einer im Gedächtnis geblieben: Helmut! Klar, seine größte Zeit lag hinter ihm. Er war 34. Damals ein hohes Fußballer-Alter. An der Hüfte hatte sich ein Pölsterchen angesammelt. Und ein Laufwunder war er wohl noch nie gewesen. Aber dennoch: Helmut war in dieser Regionalliga eine Klasse für sich. Wenn er an den Ball kam, dann hielten zehntausend den Atem an. Ahnten, hofften, erwarteten: Jetzt passiert was! Ein unglaublich cleverer Pass, eine verblüffend geschickte Körpertäuschung … Regelmäßige Höhepunkte der Helmut-Show für mich: Freistöße in Strafraumnähe. Gefühlt hat der Helmut damals jeden Ball aus dem Stand ins Kreuzeck geschlenzt. Stimmt so natürlich nicht. Aber in der Erinnerung bleibt das ewig so.
Erst Jahre später erkannte ich aber die allergrößte Leistung von Helmut. Er war der Star. Aber er war kein egoistischer Selbstdarsteller. Von seinen Ideen, von seiner Aura haben alle Mitspieler profitiert. Sein Glanz ließ auch die Teamkollegen strahlen. Heute wissen wir: Keiner aus dem 73/74er-Team sollte eine wirklich überragende Karriere machen. Sie alle erlebten in der Saison 1973/74 die größten Momente ihrer sportlichen Laufbahn. Dank Helmut.
Mein persönlicher Favorit, mein Vorbild für meine eigene, äußerst überschaubare Fußball-„Karriere“ war Helmut allerdings nicht. Versuchen ihm nachzueifern, das wäre absurd gewesen. So technisch minderbemittelt wie ich war (und blieb). Aber die Abwehrspieler Winni Fink, Klaus Walleitner, Heiner Schuhmann, Claus Brandmair – die imponierten mir. Als ich die am Werk sah, dämmerte mir: Mit Leidenschaft, Fleiß und Hingabe kann jeder für ein Team ganz, ganz wertvoll werden. Eine Lektion fürs Leben.
Erinnerungen an FCA-Spiele: Lange Schlangen vor den Kassen am Rosenaustadion
Was hat in meinem Kopf noch die Jahrzehnte überstanden? Die Erinnerung an die Menschenmassen, an das Gedränge auf den Stehplätzen. So zusammengepresst wurde ich später nur noch beim AC/DC-Konzert. Dann die Schlangen vor den Stadionkassen. Endlos lang. Jedes Mal habe ich gebangt. Komme ich noch rechtzeitig zu Spielbeginn rein? Und schließlich die vorfreudigen Zugfahrten von Dinkelscherben nach Augsburg. Mödishofen, Kutzenhausen, Gessertshausen, Diedorf, Biburg, Westheim, Neusäß, Hirblinger Straße, Oberhausen… An jeder Station kamen Fans dazu. Wir waren eine große Gemeinschaft. Und am Abend die sieges- und auch bierseligen Heimfahrten…
Dem Rausch aber folgte der Kater. Zunächst den Aufstieg knapp verpasst. Dann die ersten Enttäuschungen in der folgenden Saison. Der FCA spielte jetzt zwar in der neuen Zweiten Bundesliga. Aber nicht an der Spitze. So büßte er für mich – wie für viele, viele andere – schnell wieder an Zugkraft ein. Die glorreichen Spieltage 1973/74 hatten nicht genügt, um einen treuen, großen Fanstamm aufzubauen. Wir, die Erfolgsfans, waren unbarmherzig, wandten uns schnell wieder ab. Die Zuschauerzahlen sackten nach unten. Auch ich setzte andere Prioritäten. War jetzt endlich 18. In Dinkelscherben lockte den jungen Mann eine Diskothek namens Old Man ...
Auf FCA-Abstieg 1983 folgten 23 Jahre Dritt- und Viertklassigkeit
Ende 1979 begann ich als frisch gebackener Redakteur in der Sportredaktion der Augsburger Allgemeinen zu arbeiten. Ich lernte in der Folgezeit einige meiner Helden von 73/74 persönlich kennen. Winni Fink, Heiner Schuhmann, Claus Brandmair. Und vor allem auch ihn: Helmut Haller. Es war mir eine Ehre.
Am Anfang meiner beruflichen Laufbahn blieben mir noch zwei FCA-Spielzeiten in der zweiten Liga gegönnt. Dann der Abstieg 1983. Wie viele andere dachte ich damals: Wird schon wieder. Nächstes Jahr steigt der FCA wieder auf. Aus „nächstes Jahr“ wurden 23 Jahre in der Dritt- und Viertklassigkeit, fast durchweg in prekären finanziellen Verhältnissen, einmal sogar mit der Konsequenz Zwangsabstieg. Dass ich einmal als altgedienter Redakteur mit an einem Buch über den Bundesligaaufstieg arbeiten würde – ich hätte es in diesen 23 Jahren als schlechten Witz abgetan.
Was mich am „neuen“ FCA am meisten erstaunt, was ich am meisten bewundere: Im Unterschied zu 1973/74 ist es gelungen, eine nun mehr als zwanzig Jahre anhaltende Erfolgsgeschichte zu schreiben. Und ich bin damit zu einem langjährigen, alten Erfolgsfan geworden.
Statistik zur Saison 1973/74
Kader Torhüter: Hans Hauser, Georg Mögele, Richard Kozurek. Abwehr: Alwin Fink, Herbert Höbusch, Heiner Schuhmann, Klaus Walleitner, Claus Brandmair, Harald Steinhäusler, Willi Miller. Mittelfeld: Wolfgang Haug, Klaus Vöhringer, Helmut Haller, Walter Schwab, Stefan Motzet, Franz Bracher. Sturm: Hans Jörg, Karl Obermeier, Erich Weixler, Georg Schnurrer, Edgar Schneider, Ludwig Stocker. Trainer: Milovan Beljin.
Spiele, Ergebnisse, Zuschauer
Regionalliga Süd
VfR Heilbronn 6:2 (18.000*), 1:3** - 1860 München 1:1, 2:0 (38.000) - Stuttgarter Kickers 2:0 (30.000), 1:4 - VfR Mannheim 4:1, 3:0 (20.000) - Bayern Hof 3:0 (30.000), 1:4 - SpVgg Fürth 1:1, 1:0 (12.000) - Karlsruher SC 1:1, 5:1 (20.000) - Darmstadt 3:0 (38.000), 0:2 - SpVgg Bayreuth 3:3, 5:3 (16.000) - 1. FC Nürnberg 2:1 (42.000), 2:2 - FC Schweinfurt 05 2:1, 3:1 (15.000) - Waldhof Mannheim 4:3 (20.000), 2:0 - Freiburger FC 0:0, 4:1 (18.000) - FSV Frankfurt 2:1 (16.000), 0:1 - Hessen Kassel 2:2, 3:0 (22.000) - VfR Oli Bürstadt 1:3, 2:2 (22.000) - Jahn Regensburg 2:1 (8000), 5:2
Aufstiegsrunde FC St. Pauli 3:2, 4:4 (25.000) - TB Berlin 2:2 (30.000), 2:2 - RW Oberhausen 2:2 (30.000), 2:3 - Bor. Neunkirchen 1:1, 2:1 (10.000)
*Zuschauerzahl bei Heimspielen, **Ergebnisse jeweils aus Sicht des FCA