Jess Thorup grüßt freundlich. Wie er das immer macht. Er steigt entspannt vom Rad, die Fußballschuhe hält er in der Hand. Er läuft die paar Meter zum Trainingsplatz, vorbei an den wenigen Fans. Thorup begrüßt jeden Einzelnen, unterhält sich kurz. Man kennt sich auf dem Trainingsgelände des FC Augsburg. Der Däne streift sich noch Mütze und Handschuhe über, es ist kalt geworden rund um die Fußball-Arena. Im Verein dagegen ist die frostige Stimmung einer neuen Hoffnung gewichen. Ein Grund ist der Mann aus dem hohen Norden. Beinahe wäre er Steuerberater geworden, stattdessen hat er den biederen FCA zum Team der Stunde in der Bundesliga geformt.
Seit knapp sechs Wochen ist der 53-Jährige beim FC Augsburg. Er folgte auf den glücklosen Enrico Maaßen, mit dem der FCA in einer Krise steckte. Keine Siege, langweiliger Fußball, die Stimmung war trüb. Fast schon quälend lange hatte der Verein an ihm festgehalten. Doch die erhoffte Wende blieb aus. Bis Thorup kam. Seitdem haben die Augsburger aus vier Partien acht Punkte geholt. Thorup ist der Hoffnungsträger. Nach Jahren des reinen Existenzkampfes am unteren Ende der Bundesliga-Tabelle mitsamt vieler Unruhen scheint endlich eine entspanntere Saison möglich. Der Fußball macht wieder das, wofür ihn die Fans lieben: Er sorgt für Unterhaltung und Abwechslung.
Auch dank des Dänen, der erstmals in der Bundesliga trainiert. Für viele Trainer ist Deutschlands Eliteliga ein echtes Sehnsuchtsziel. Auch für Thorup. Und doch hat er nicht beim ersten Anruf aus Augsburg sofort zugesagt. Weitere Gespräche folgten, mehrere Tage überlegte er, ob die Aufgabe für ihn reizvoll ist. Sie ist es. Geschäftsführer Michael Ströll und Sportdirektor Marinko Jurendic haben ihn überzeugt. Thorup mag es, junge Spieler zu entwickeln, vor einigen Jahren hat er die U21-Nationalmannschaft Dänemarks trainiert. Auch in Augsburg soll er bei der Entwicklung der Eigengewächse helfen, sie im Idealfall an die Profimannschaft heranführen. Diese Aufgabe reizt ihn.
Mit dem FC Kopenhagen spielte Jess Thorup in der Champions League
An Angeboten mangelte es dem 53-Jährigen in seiner Karriere nicht. 2015 wechselte er von Dänemarks U21 zum FC Midtjylland. 2020 war er erst wenige Wochen in Genk, als eine Anfrage vom FC Kopenhagen kam. Der Hauptstadtklub ist Dänemarks FC Bayern. Wenn von dort ein Angebot kommt, sagt keiner nein. Auch Thorup nicht. Er wurde mit Kopenhagen Meister und spielte Champions League. Er kennt die große Fußballwelt. Und er weiß, wie sich Titel anfühlen. In Augsburg wird er das eher nicht erleben. Trotzdem fühlt er sich hier am genau richtigen Platz. Er ist der Ruhepol in einer Zeit des Umbruchs. Der Verein hat sich innerhalb eines Jahres völlig neu aufgestellt.
Ein Zauberer ist freilich auch Thorup nicht. Er hat die Fußballwelt in Augsburg nicht völlig auf den Kopf gestellt, sagt Sven Michel, einer der Spieler. Er hat aber das Denken verändert, immer wieder spricht er von einem "offensiven Mindset". Also selbst agieren, sich nicht nur dem Gegner anpassen. Den Spielern gefällt das, weil sie offensiver Fußball spielen dürfen. Thorup gibt einen klaren Weg vor, einen nachvollziehbaren, an den die Spieler glauben. Also folgen sie ihm. Niklas Dorsch, den Thorup aus einer kurzen gemeinsamen Zeit in Belgien bereits kannte, sagt: "Der Trainer gibt mir das Gefühl, dass er an mich glaubt und mich stärkt." Fußball ist immer auch Psychologie. Thorup scheint das verstanden zu haben, er verlässt sich dabei auch häufig auf sein Bauchgefühl.
Auch Vertrauen ist wichtig. Ein Trainer muss sich das allerdings verdienen. Im vergangenen Heimspiel des FCA gegen Hoffenheim änderte er in der Pause die Taktik. Er stellte seine Abwehr um. Er könne da nicht lange überlegen, sagt er, oder gar noch diskutieren. Nein. Hier braucht es rasche, klare Entscheidungen, kein Zaudern. Er bietet seinen Spielern Lösungen für eine bessere zweite Hälfte. Oder wie er es sagt: Er gibt ihnen das Rüstzeug mit, anwenden müssen sie es selbst.
Thorup strahlt Autorität aus. Auf und neben dem Feld. Beim Training schaut er am Anfang noch entspannt zu, bindet auch seine Co-Trainer mit ein. Geht es um taktische Fragen, ist er gefordert. Das weiß er. Dann rückt er in die Mitte des Platzes, läuft bei den Übungen mit und macht klare Vorgaben. Er will spüren, was auf dem Feld passiert. Und die Spieler sollen merken, wer der Chef ist. Da besteht kein Zweifel. Seine Stimme ist laut, die Ansagen sind präzise.
Jess Thorup hat den richtigen Weg für sich gefunden
Kürzlich hat Thorup seinen Landsmann Jacob Friis in sein Trainerteam geholt. Weil er sich von ihm und den übrigen Co-Trainern Qualitäten verspricht, die er selbst nicht hat. "Was ich nicht weiß, müssen die Assistenten wissen", sagt Thorup. Den Weg aber gibt er vor. Unmissverständlich. Bislang folgen die Spieler des FCA. Geholfen haben die ersten vier Partien, die allesamt nicht verloren gingen. "Am Ende geht es immer um die Ergebnisse, das ist mir bewusst", sagt der 53-Jährige, "mir ist aber der Weg mindestens genauso wichtig."
Thorup hat den Weg für sich gefunden. Natürlich spricht auch er viel von Taktik. Von einer Vierer- oder Dreierkette. Davon, dass die Spieler vor allem im Defensivverhalten klare Vorgaben brauchen, wohingegen in der Offensive deutlich mehr Freiheiten möglich sind. Er sagt aber auch, dass das Miteinander passen müsse, der Teamgeist. Deshalb sind ihm gemeinsame Aktivitäten wichtig. Von all seinen Stationen hat er viel mitgenommen, von zwei Trainern hat er besonders viel gelernt. Der eine war eher der offene Typ, der andere eher distanziert zu seinen Spielern. Er versucht, für sich die Mischung zu finden. Und vor allem seinen eigenen Weg zu gehen. "Man muss seine eigene Persönlichkeit entwickeln und zeigen", sagt er.
Bei seiner ersten Pressekonferenz war der 53-Jährige im schicken Anzug erschienen, mit Weste und Krawatte. Ein stilsicherer Auftritt, der Autorität ausstrahlte, aber auch zeigte, dass für Thorup der Dienstbeginn ein wichtiges Ereignis war. Weste und Krawatte legt er bei den Spielen ab, den Anzug nicht. Das wird registriert, von der Öffentlichkeit, die sich plötzlich mit der Kleidung des Augsburger Fußballtrainers beschäftigt. Aber eben auch von den Spielern, die sich von seinem Auftreten überzeugen lassen.
Thorup möchte die Menschen in seinem näheren Umfeld kennenlernen. An einem trüben Mittwoch sitzt der Däne in der VIP-Lounge der Arena. Das Training ist beendet, er hat Zeit für ein langes Gespräch. Er wird es auf Deutsch führen, nur ab und zu wechselt er ins Englische. Vor ihm liegt ein schwarzes Notizbuch. Immer wieder zeigt er darauf. Drinnen stehen seine Notizen zu all seinen Spielern. Zu ihrer Lebenssituation, zur Familie oder dem letzten Urlaub. Thorup will sich mit ihnen nicht nur über Fußball unterhalten. Er duzt die Spieler, sie dürfen das gerne auch mit ihm tun.
Er weiß, dass er nicht der beste Freund der Spieler sein muss. Für Thorup sind Loyalität, Vertrauen und Ehrlichkeit wichtig. Er werde keinem Spieler etwas vormachen. Glaubt er nicht an die Qualitäten eines Akteurs, wird er ihm das sagen. Ohne Scheu. "Ich werde immer ehrlich zum Spieler sein, auch wenn es manchmal schwierig zu hören ist", erklärt er. Im Winter könnte es einige solcher Gespräche geben. Der Augsburger Kader mit derzeit 32 Spielern ist ihm zu groß, er peilt eine Zahl zwischen 21 und 25 an.
Im Dezember wird Thorups Ehefrau nach Augsburg ziehen
Von Augsburg kennt der 53-Jährige bislang die Innenstadt. Sie gefällt ihm. Noch lebt er im Hotel, eine Wohnung zu finden, sei schwer. Anfang Dezember wird seine Frau Birgitte zu ihm ziehen, bislang ist sie in Kopenhagen geblieben. Lange hat Thorup in Odense gelebt, zudem an der Westküste Dänemarks. Sein Vater war erst Kellner in einem Hotel, ehe er ins Marketing gewechselt ist. Seine Mutter war Personal Trainerin. Schon in seiner Jugend musste Jess Thorup oft umziehen, daran hat sich nichts geändert. Ein Jobwechsel verlangt der gesamten Familie viel ab. Mittlerweile haben seine Kinder ihr eigenes Leben. Sohn Matias arbeitet in einer Bank in Kopenhagen, Tochter Katrine wird Zahnärztin.
Thorup war immer klar gewesen, dass er Fußballprofi werden möchte. Ein Plan B? Nein, Thorup schüttelt den Kopf, eigentlich gab es den nicht. Wobei: Nach seiner Schulzeit hatte er zwei Jahre in einer Steuerkanzlei gearbeitet. Die Arbeit mit den Zahlen hat ihm Spaß gemacht. Irgendwann aber musste er sich entscheiden, er wählte den professionellen Fußball und verließ das Steuerbüro.
Der Stürmer spielte lange in Odense, ehe ihn sein Weg nach Deutschland führte. Von 1996 bis 1998 kickte er beim KFC Uerdingen, eine lehrreiche Zeit. Dort lernte er das Konkurrenzdenken kennen – raus aus dem kuscheligen Dänemark hinein ins Haifischbecken Zweite Bundesliga. Da ging es nicht nur um Punkte oder Tore, sondern darum, knallhart seinen Platz zu behaupten. Eine wichtige Erfahrung. Weiter ging es für ihn in Innsbruck. Dort bekam er viel Besuch von Freunden, die in die Berge wollten. Er selbst wurde ein passabler Skifahrer.
2006 beendete er seine aktive Karriere. Was tun? Er liebäugelte mit einem Job als Immobilienmakler, wollte sich in eine Firma einkaufen. Zugleich aber wurde er angefragt für eine Stelle als Co-Trainer bei Esbjerg fB. Er blieb dem Fußball treu. Nicht die schlechteste Entscheidung.
Seine ersten Tage und Wochen in Augsburg waren anstrengend. Er führte viele Gespräche, musste Verein und Menschen kennenlernen. Verschnaufpausen gab es wenige. Umso mehr freut sich der 53-Jährige auf Weihnachten. Zusammen mit seiner Frau und Tochter wird er auf einer kleinen dänischen Insel feiern, auf dem die Thorups ein Ferienhaus besitzen. Ente wird es geben, wie in vielen dänischen Familien. Als Nachspeise folgt Milchreis mit Mandeln. Die meisten sind klein gehackt, nur eine bleibt groß. Wer die findet, bekommt ein Geschenk. Bei seinem derzeitigen Lauf wird es wohl Jess Thorup sein.
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