Um das Phänomen Jonas Deichmann zu verstehen, muss man erst einmal mit Leuten wie Torsten Geissler sprechen. Der 47-jährige Polizist aus der Nähe von Cottbus geht an diesem Morgen im Juni, trotz der "perfekten Konditionen", nicht schwimmen. Um zehn vor sieben steht er auf dem Steg des Rothsees, dessen Wasser ganz ruhig ist, kehrt dann aber nach wenigen Minuten wieder um. Geissler, Dreitagebart und müde Augen, trägt trotz der frühmorgendlichen Kälte eine kurze Hose, sein Pullover ist mit Sponsorennamen zugekleistert. Er hat jetzt eine lange Heimreise in seinem Bulli vor sich.
Am Vortag noch ist Geissler um 6.45 Uhr in den See gesprungen, 3,8 Kilometer geschwommen, daraufhin 180 Kilometer Fahrrad gefahren und dann, als ob das alles nicht genug wäre, einen Marathon gelaufen. Er hat sich für den Triathlon zwei freie Tage genommen und merkt nun selbst: "Ganz schön viel Fahrt und Aufwand, um etwas Sport zu treiben." Wer ihn dazu motiviert hat? "Jonas Deichmann." Der Mann, der gerade ziemlich viele Triathleten und Nicht-Triathleten aus ganz Deutschland in die mittelfränkische Provinz zieht.
120 Mal den "Iron Man"-Triathlon am Stück
In Roth und um Roth herum möchte er jeden Tag, 120 Tage am Stück, eine Triathlon-Langdistanz absolvieren, besser bekannt als "Iron Man". Deichmann visiert den Weltrekord an, der bei 106 Langdistanzen am Stück liegt, und animiert dabei andere mitzumachen. Das gelingt: Jeden Tag fahren Sportlerinnen und Sportler mit Deichmann Fahrrad, begleiten ihn beim Schwimmen oder laufen Seite an Seite die gut 42 Kilometer. Er selbst sagt: "Es sind die Menschen, die mich jeden Tag unterstützen, die mich motivieren, weiterzumachen."
Dass solcher Extremsport Anklang findet, passt in eine Zeit, in der es immer schneller, höher und weiter gehen soll. Leute, die um fünf Uhr morgens aufstehen, erst einmal in die Eistonne steigen und noch vor der Arbeit einen Marathon laufen, sieht man in den sozialen Medien zuhauf. Bei all denen, deren oberste Maxime Selbstoptimierung und Effizienz in Verbindung im Extremsport ist, trifft Deichmann mit seinem Projekt einen Nerv. Fragen, welches Koffein-Gel er lutscht oder wie viele Kohlenhydrate und Elektrolyte er in sein Wasser mischt, fallen in der Szene häufiger als: Warum macht er das?
Mit dem Fahrrad durch Sibirien oder von US-Küste zu Küste
So richtig eine Antwort auf das "Warum?" gibt es nicht: Deichmann versucht die Frage zu umgehen, antwortet mit Floskeln. Ob mit dem Fahrrad durch Sibirien oder in den USA von Küste zu Küste; er will Rekorde brechen und geht dafür an sein körperliches und mentales Limit. Und das gelingt: 2018 radelt der 37-Jährige in 100 Tagen von Alaska an die Südspitze Südamerikas, bricht dabei den Rekord für die schnellste Zeit. 2021 ist er der Erste, der in 120 Iron-Man-Distanzen die Welt umrundet. Dabei schwimmt er 450 Kilometer an der kroatischen Küste, fährt 21.000 Kilometer Fahrrad und läuft 5060 Kilometer in Mexiko.
Mittlerweile kann der studierte Betriebswirt von seinem Sport leben: Er hält Vorträge, hat mehrere Bücher geschrieben und vermarktet sich und seine Geschichten erfolgreich in den sozialen Medien. Hinzu kommen die Gelder der Sponsoren. Im Gespräch mit unserer Redaktion sagt er, die "Challenge 120", wie er seinen diesjährigen Weltrekordversuch nennt, sei für ihn trotz seiner bisherigen Abenteuer etwas komplett Neues. Zwar seien die Umstände "etwas einfacher als in Sibirien", man habe jedoch mit anderen Sachen zu kämpfen. "Allein der organisatorische Aufwand ist enorm."
Jonas Deichmann braucht täglich mehr als 10 000 Kalorien
Nun ja, da hat Jonas Deichmann recht. Der organisatorische und logistische Teil seiner Challenge, also seiner Herausforderung, ist gewaltig. Bei einem Besuch in Roth merkt man, dass allein die Verpflegung einiges in Anspruch nimmt. Er verbraucht täglich zwischen 10.000 und 11.000 Kalorien, die er mit sieben Mahlzeiten pro Tag versucht auszugleichen. Um im Schwimmen auf die 3,8 Kilometer zu kommen, muss er insgesamt vier von gelben Bojen markierte Runden im Rothsee schwimmen. Nach jeder Runde hält er kurz an und nimmt einen Schluck aus seiner Wasserflasche.
Sammy Deichmann parkt seinen schwarzen Minibus neben dem Steg des Sees. Sammy, der eigentlich Kurt-Dieter heißt, ist Jonas' Vater und einer von zweien, die den Extremsportler Tag für Tag unterstützen. Während der Challenge bekocht er seinen Jonas pausenlos. Kurz bevor der Sohnemann aus dem Wasser steigt, stellt der Vater neben dem Steg zwei Campingstühle auf. "Die Tage sind lang: Um fünf Uhr klingelt der Wecker, um 23.30 Uhr gehen wir meistens schlafen." Dazwischen gilt es zu kochen, zu organisieren und sicherzustellen, dass die Tage ohne jeglichen Ausrutscher ablaufen. "In der ersten Woche war es noch ein riesiges Chaos, nach fast 40 Tagen jetzt sitzt fast jeder Handgriff."
Auch bei der "Challenge Roth" wird Deichmann an den Start gehen
Jonas Deichmann rückt einen der Campingstühle in die Sonne. Er hat sich schon im Camper-Van umgezogen und den Neoprenanzug gegen eine Radlerhose, eine Daunenjacke und eine Wollmütze getauscht. Die Augenringe deuten auf die vergangenen 38 Langdistanzen hin. Seine Beine sind rasiert, der Bart nicht. "Die ersten zwei Wochen hatte ich durchgehend schwere Beine", sagt er, "mittlerweile hat sich mein Körper gewöhnt." Nach einer Stunde im Wasser frühstückt der 37-Jährige zum zweiten Mal, es gibt Haferflocken mit Obst. Langsam trudeln die ersten Fahrradfahrer ein, die ihn auf seinen 180 Kilometern begleiten wollen. Deichmann lässt sich Zeit, warum auch stressen, wenn man ohnehin den ganzen Tag Zeit hat. Dass er die Stadt Roth für sich ausgesucht hat, ist kein Zufall: Jedes Jahr findet dort die "Challenge Roth" statt, einer der weltweit größten Wettkämpfe, bei dem die Stars der Triathlon-Langdistanz-Szene an den Start gehen.
Beim Frühstück erzählt Deichmann, es kämen täglich Leute aus ganz Deutschland, um ihn bei seiner Tour zu begleiten. Gerade macht ein Rentnerpaar aus Duisburg Fotos von ihm im Campingstuhl. Viele, die mit dem Extremsportler fahren, laufen oder schwimmen, trainieren selbst für den Wettkampf in Roth. Auch Jonas Deichmann wird Anfang Juli dort an den Start gehen, "wir konnten jedoch erleichterte Teilnahmebedingungen erhalten", sagt sein Vater. "Er muss danach schließlich noch ein paar Langdistanzen absolvieren." Deichmanns Team wird ihn auch beim Wettkampf versorgen, "ohne die Unterstützung wäre das Ganze nicht möglich", sagt er selbst. Es wird der 60. Tag seiner Challenge sein, Halbzeit.
Um kurz nach neun schwingt sich der Sportler auf sein Rad. "Schön, dass ihr alle da seid. Auf geht’s", heißt es in Richtung seiner fünf heutigen Begleiter. Sobald Jonas losfährt, packt sein Vater alles zusammen. "Heute steht ein Bulgursalat auf dem Menü, den muss ich zu Hause jetzt noch machen", sagt er, während er die Stühle in den Camper stellt. Ein Blick in den Bus verrät, dass auch hier Effizienz an höchster Stelle steht. Mit einem Waschbecken, einer Bank zum Schlafen, Haken für die Fahrräder, einem Kühlschrank und einer Toilette wurde an alle Eventualitäten gedacht.
Manager und Vater Sammy Deichmann unterstützt seinen ambitionierten Sohn
"Wir sind hier für alles gewappnet", sagt Sammy Deichmann, der schon seit mehreren Jahren als Manager an Jonas' Seite steht. Sein Sohn, der vor sieben Jahren seine Karriere als Vertriebler in einem Softwareunternehmen gegen den Extremsport getauscht hat, sei schon immer jemand gewesen, der genau wusste, was er im Leben erreichen möchte. "Er ist eine sehr zielstrebige Person und lässt sich von nichts aufhalten." Dass für einen Weltrekord "nur" 107 Langdistanzen gereicht hätten, sei für Jonas kein Argument gegen die 120 gewesen. "Er wollte seine 120 Iron-Man-Distanzen um die Welt nicht unterbieten", sagt der Vater. Früher, erzählt Sammy Deichmann beim Aufräumen, sei er täglich auf seine Arbeit als Künstler angesprochen worden, "mittlerweile fragen alle nur noch, welche außergewöhnlichen Projekte der Jonas gerade plant", sagt er und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Während Sammy Deichmann nach Hause fährt, um das Essen vorzubereiten, ist Marc Bernreuther auf dem Fahrrad an Jonas Deichmanns Seite. Auch die Pausen verbringen die beiden zusammen. Oft hält er Deichmann ein Handy ins Gesicht, filmt ihn beim Essen oder auf dem Fahrrad. Denn Bernreuther ist unter anderem für den Internet-Auftritt von Jonas Deichmann zuständig. Ganz nebenbei schwimmt er die 3,8 Kilometer mit und fährt täglich mindestens 100 Kilometer Fahrrad. "Die körperliche Belastung ist nicht das, was es so anspruchsvoll macht", sagt er in der Mittagspause, nach 90 Kilometern auf dem Fahrrad.
Die Arbeit am Schreibtisch sei für ihn wesentlich härter als das Sportliche. Denn hinter den täglichen Inhalten, die er auf sämtlichen Plattformen ausspielt, steckt eine ausgeklügelte Strategie. "Um mehr Reichweite zu generieren, versuchen wir zum Beispiel, die Leute zu motivieren, unter den Posts zu kommentieren." Auf Instagram folgen etwa 300.000 Menschen Deichmann, Bernreuther sagt, gerade kämen täglich circa 1000 neue Abonnenten dazu. Tendenz steigend.
Mental wären die 120 "Iron Man" für Jonas Deichmann kein Problem
Dass nur Marc Bernreuther und Sammy Deichmann im "Team Challenge 120" sind, dient der Vorsorge. Je mehr Leute jeden Tag mit Jonas Deichmann in engen Kontakt kommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er erkrankt. Sammy Deichmann sagt, von der mentalen Stärke her sei die Herausforderung für Jonas kein Problem. "Es wäre nur blöd, wenn er sich erkälten oder verletzen würde", fügt er hinzu. Zudem steht der Sportler die gesamte Zeit unter medizinischer Beobachtung.
Zehn bis 15 Begleiter sind beim Laufen an den meisten Tagen dabei. "Wenn ich jemanden zum Sport motivieren kann, ist mein Job getan", sagt Deichmann kurz vor dem Zieleinlauf auf dem Rother Festplatz. Bernreuther fügt hinzu: "Wenn es jemanden gibt, der Menschen zu einem Triathlon überreden kann, dann ist es der Jonas." Gegen 21 Uhr ist Deichmann im Ziel angekommen. Er bekommt eine Medaille umgehängt, fasst seinen Tag für ein kurzes Video zusammen und steigt dann ins Auto. Dort gibt es direkt eine Portion Nudeln aus der Tupperdose. Zu Hause wartet schon der Physiotherapeut, schließlich steht am nächsten Tag um halb sieben Schwimmen auf dem Programm.