Biniam Girmay weinte nach seinem größten Karriereerfolg. Der 24-Jährige aus Eritrea feierte unter Tränen als erster Radprofi des afrikanischen Landes einen Erfolg bei der Tour de France. Der Radprofi aus dem belgischen Intermarché-Team um den Augsburger Georg Zimmermann war im Schatten des Stadio Olimpico in Turin zunächst sprachlos.
„Ich kann es nicht glauben, bei meiner zweiten Teilnahme bei der Tour de France zu gewinnen”, sagte er nach dem Rennen. Der gläubige Mann bedankte sich bei Gott, widmete den Sieg seinen Landsleuten und seiner Familie. „Es bedeutet mir viel, besonders für den Kontinent”, sagte er überglücklich.
Girmay siegte überraschend auf der dritten Etappe nach den 230,8 flachen Kilometern zwischen Piacenza und der nördlichen Metropole Turin in einem hektischen Schlussspurt vor dem Kolumbianer Fernando Gaviria und dem Belgier Arnaud de Lie. Es war der erste Sieg für das Intermarché-Team. Beim Teambus herrschte Partystimmung. Sportdirektor Aike Visbeek schwärmte: „Das ist sehr wichtig für sein ganzes Land.” Er hoffte, dass durch den „Botschafter” Girmay mehr Menschen aus seiner Heimat zum Radsport gelangten.
Carapaz erobert Gelbes Trikot
Girmay schrieb in der norditalienischen Stadt Turin Radsportgeschichte. Der Junge aus Asmara, ausgezogen aus einem der ärmsten Länder der Welt, um seinen Traum zu leben, hat es tatsächlich geschafft und für ein Novum bei der 111. Auflage gesorgt. „Als ich im Radsport gestartet bin, hätte ich mir nie vorstellen können, bei der Tour de France zu starten.” Er bezeichnete seinen Sieg als „unglaublich.”
Über das Entwicklungsprogramm des Radsport-Weltverbandes UCI war Girmay einst nach Europa gekommen, um schließlich bei den Profis durchzustarten. 2022 hatte Girmay schon historische Erfolge gefeiert, als er den Klassiker Gent-Wevelgem gewann und eine Etappe beim Giro d'Italia holte, ehe er die Rundfahrt unglücklicherweise verlassen musste, weil er sich bei der Siegerehrung einen Sektkorken ins Auge schoss. Team-Kollege Zimmermann lobte seinen Kollegen, der immer „für eine Überraschung gut ist”.
Eine kleine Überraschung gab es auch in der Gesamtwertung. Das Gelbe Trikot des Gesamtersten übernahm Richard Carapaz von Superstar Tadej Pogacar. Der Ecuadorianer profitierte davon, dass er auf der Sprintetappe einige Plätze vor Pogacar lag. Insgesamt sind in der Gesamtwertung vier Fahrer zeitgleich, dabei auch der Titelverteidiger Jonas Vingegaard und der belgische Jungstar Remco Evenepoel. Bei der Ermittlung des Gesamtersten liegt dann der Radprofi vorn, der im Schnitt die besten Platzierungen vorzuweisen hat.
Aldag trotz Zeitverlust von Roglic gelassen
Unter den besten Vier ist aktuell nicht Primoz Roglic zu finden. Wie erwartet machte der Shootingstar des deutschen Top-Teams Red Bull keinen großen Sprung zurück in die Riege der anderen Topfahrer. Am Vortag war der Abstand des Slowenen auf Landsmann Pogacar, Vingegaard und Evenepoel auf 21 Sekunden angewachsen. Sein Team blieb aber entspannt. „Wir haben ein bisschen Zeit verloren, aber gefühlt nicht die Tour verloren. Und das ist schon mal gut”, sagte Sportchef Rolf Aldag.
Nach zwei kräftezehrenden Tagen in Italien bei hohen Temperaturen hatte es sich zum Wochenbeginn abgekühlt. Im Fahrerfeld waren weniger Kühlpacks im Nacken und Eiswesten sichtbar. Mark Cavendish dürfte kräftig durchgepustet haben. Am ersten Tag brach er schon nach dem Start in Florenz beim ersten Anstieg ein, musste sich übergeben und schaffte es nur mit Mühe und Not mit einem Rückstand von 39 Minuten nach dem französischen Tagessieger Romain Bardet ins Ziel.
Cavendish mit mechanischem Defekt
Am dritten Tour-Tag erlebte Cavendish, der unbedingt seinen 35. Etappensieg einfahren will und so den alleinigen Rekord vor Legende Eddy Merckx beanspruchen würde, wieder einen kleinen Rückschlag. 89 Kilometer vor dem Ziel hatte er ein mechanisches Problem und fiel zurück. Allerdings kehrte er kurz darauf wieder ins Fahrerfeld zurück, das über das gesamte Rennen größtenteils geschlossen blieb.
Erst knapp 66 Kilometer vor dem Ziel startete der Franzose Fabien Grellier eine gehaltvolle Attacke, schnappte sich die Bergpunkte an der Côte de Sommariva Perno und wurde knapp 28 Kilometer vor dem Ende der Etappe wieder eingeholt. Danach war bei den Teams alles auf den Massensprint ausgerichtet.
Philipsen und van der Poel im Pech
Der belgische Sprintkönig Jasper Philipsen ging leer aus, landete nicht unter den besten Zehn und verpasste seinen siebten Tour-Erfolg. Philipsens wichtigster Helfer Mathieu van der Poel, aktueller Weltmeister, hatte ausgerechnet sechs Kilometer vor dem Ziel einen Defekt und konnte seinem Team-Kollegen nicht mehr entscheidend helfen. Der deutsche Sprinter Phil Bauhaus wurde Sechster. Auch Routinier Mark Cavendish kam nicht in die Nähe seines angestrebten alleinigen Etappensieg-Rekords.
Am Dienstag könnte es bei den Top-Favoriten um Pogacar und Vingegaard größere Veränderungen in der Gesamtwertung geben. Die Profis fahren über den 2642 Meter hohen Tour-Klassiker Col du Galibier. Insgesamt stehen bei den ersten Rennkilometern in Frankreich nach dem Beginn in Italien 139,6 Kilometer von Pinerolo nach Valloire an.