Sophia Gerschel, die inzwischen so ziemlich jeder großen Fanszene im deutschen Fußball ein Begriff ist, wirkt aufgeräumt. Hinter den schwarzen Rändern ihrer halbrunden Brille blickt die Mitarbeiterin des Karlsruher Fanprojekts mit klaren Augen auf einen Fall, der auch ihr Fall ist – und dessen Ausgang noch unklar ist. „Das Verfahren überdeckt alles”, sagt Gerschel, auch ihre äußere Ruhe, „das ist eine emotionale, komplette Achterbahn.”
Zusammen mit ihren beiden Fanprojekt-Kollegen ist sie Ende Oktober vom Amtsgericht zu einer Geldstrafe im mittleren vierstelligen Bereich verurteilt worden. Nach einem Pyro-Vorfall mit elf Verletzten beim Zweitligaspiel des Karlsruher SC gegen den FC St. Pauli im November 2022 hatten sich die drei Sozialarbeiter geweigert, in der Aufarbeitung als Zeugen auszusagen. Aber ein Zeugnisverweigerungsrecht gibt es in der Sozialen Arbeit nur in wenigen Ausnahmefällen. Jetzt kämpft Gerschel um eine Ausweitung dieses Rechts.
Sie will ihre Arbeit schützen, nicht die Täter
Es sei ihnen nicht darum gegangen, mögliche Täter zu schützen, sondern ihre Arbeit, die auf Vertrauen basiere, argumentiert Gerschel. Und das werde nun mal zerstört, wenn sie potenziell sensible Inhalte aus vertraulichen Gesprächen publik mache. „Grundsätzlich ist für uns klar, dass wir nicht verurteilt werden dafür, dass wir unsere Arbeit machen.” Sie wird Berufung einlegen, denn: „Das werden wir nicht akzeptieren.”
Der Fall sorgt auch über das Karlsruher Fanprojekt hinaus für Trotz und Bedenken. Es stellen sich prinzipielle Fragen: Wie sehr dürfen Ermittlungsverfahren zulasten von Vertrauen und Vertraulichkeit gehen? Wie wichtig sind dem Staat präventive Maßnahmen? Und wie geht es weiter für die deutschlandweit 68 Fanprojekte vor dem Hintergrund des Karlsruher Urteils?
In den Fanprojekten herrscht Verunsicherung
„Durch das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht herrscht eine Unsicherheit. Es gibt vereinzelt Fälle, wo Leute ihre Arbeit deshalb verlassen haben”, sagt Michael Gabriel, Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS). „Einige Standorte berichten, dass die Verunsicherung durch das Karlsruher Urteil auch bei Vorstellungsgesprächen Thema ist.” Kolleginnen und Kollegen würden sich „von Situationen fernhalten, die konfliktbehaftet sind”. Denn der Karlsruher Fall zeigt, dass sonst Strafen drohen könnten.
Daniel Melchien, der als Vorsitzender des Stadtjugendausschusses in Karlsruhe auch Gerschels Chef ist, sieht ein ähnliches Problem: „Wir bewegen uns in einem Feld, auf dem wir einen krassen Personalmangel haben. Und da wird es kein Träger schaffen, Personal zu finden, wenn der rechtliche Rahmen nicht klar ist; wenn ich befürchten muss, dass ich unverschuldet in so eine Situation komme.”
Gerschels Job besteht im Wesentlichen darin, Fußballfans zu begleiten, die außerhalb des Stadions vielleicht nicht immer ganz so gut zurechtkommen. Schwerere Fälle inbegriffen. Sie berät, hört zu, zeigt Perspektiven auf. „Wir sind diejenigen, mit denen noch gesprochen wird. Fußballfans sprechen in den wenigsten Fällen mit der Polizei. Als Fanprojekt haben wir den Zugang, können übersetzen, vermitteln”, erklärt Gerschel. Deshalb ihr Einsatz ums Zeugnisverweigerungsrecht: „Es muss politisch deutlich gemacht werden, welche Bedeutung soziale Arbeit hat. Und dann muss diese auch geschützt werden.” Sie fordert: „Der rechtliche Rahmen muss sich ändern.”
Parteien positionieren sich unterschiedlich
Paragraf 53 der Strafprozessordnung regelt das Zeugnisverweigerungsrecht (ZVR) der Berufsgeheimnisträger, darunter fallen Journalisten, Medizinerinnen oder Juristen. Eine Erweiterung auf Berufe der Sozialen Arbeit, die der Bundestag beschließen müsste, gilt derzeit als wenig aussichtsreich.
Bereits Ende des vergangenen Jahres hatte sich die nun aufgelöste Ampel-Koalition auf eine kleine Anfrage aus der Linkspartei ablehnend geäußert. Tenor: Eine „effektive Strafverfolgung” wiege höher als Vertrauensverhältnisse in der Sozialen Arbeit, so wichtig diese auch seien.
„Die Position der Bundesregierung unterstreicht die Wichtigkeit der Wahrheitsfindung im Strafverfahren, die durch Ausnahmen beim ZVR potenziell beeinträchtigt werden könnte”, erklärt Sonka E. Mehner, Fachanwältin für Strafrecht. „Indem das ZVR ausschließlich für klassische Berufsgeheimnisträger vorgesehen ist, soll die Abgrenzung deutlich bleiben und der Ermittlungsspielraum der Strafjustiz gewahrt werden.”
Aus der SPD-Fraktion hieß es auf Anfrage, die Auffassung der Ampel-Koalition teile man unverändert. Auch die größte Oppositionsfraktion steht „jeder Erweiterung dieses heute schon großen Kreises skeptisch gegenüber”, sagte Günter Krings, rechtspolitischer Sprecher von CDU/CSU.
Sportpolitiker wie Philipp Hartewig (FDP) oder Philip Krämer (Grüne) können sich Reformen vorstellen, Clara Bünger, rechtspolitische Sprecherin der Linken, hält ein Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für „unerlässlich, um das Vertrauensverhältnis zu den Ratsuchenden zu schützen”.
Gerschel hört auf - aber aus anderen Gründen
Sport- und Sozialpolitiker aller Parteien aus der demokratischen Mitte seien grundsätzlich offen für die Erweiterung des ZVR, glaubt Melchien. Sein Eindruck sei, dass die Innenpolitiker bremsen würden. Die Politik müsse aber erkennen, „dass es ohne Reform des Zeugnisverweigerungsrechts keine gute Perspektive für viele Bereiche der sozialen Arbeit geben kann”.
Sophia Gerschel hat sich bereits entschieden, ihre Arbeit im Fanprojekt zum Ende des Jahres zu beenden, „aber nicht wegen dieses Verfahrens”, wie sie betont. Pädagogische und fachliche Gründe hätten die entscheidende Rolle gespielt. „Das ist mein Traumjob. Ich mache das mit vollem Herzen und der Abschied nach knapp 15 Jahren fällt mir nicht leicht.” Wie es nun weitergeht auf ihrer emotionalen Achterbahn, weiß sie selbst noch nicht. Ihr Wunsch: am besten voran. Auch beim Zeugnisverweigerungsrecht.