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FUßBALL: EUROPAMEISTERSCHAFT
Der Weltmeister bittet zum Tanz
Deutsche Nationalmannschaft: Vor dem Start in die Europameisterschaft am Sonntag gegen die Ukraine überließ die deutsche Nationalelf kaum etwas dem Zufall. Sogar ein Tanzkurs soll zur Vorbereitung gehört haben.
Achim Muth
 |  aktualisiert: 27.04.2023 01:47 Uhr

Die bisweilen übertriebene Akribie, mit der der Deutsche Fußball-Bund (DFB) eine Mission wie diese Europameisterschaft angeht, war noch in Ascona im Trainingslager schön zu beobachten. In dem Städtchen am Lago Maggiore war das Stadio Comunale angemietet worden, der Frankfurter Landschaftsarchitekt Rainer Ernst, Beisitzer im Vorstand der Deutschen Rasengesellschaft, hatte im Auftrag des DFB für einen grünen Naturteppich gesorgt. Alles war vorbereitet für den ersten Trainingstag der Nationalmannschaft, und nur wer ganz genau hingesehen hatte, der konnte erkennen, dass eine Linie eines Sechszehnmeterraums wohl mit leicht zittriger Hand abgestreut worden war. Eine Petitesse. Nicht der Rede wert. Am nächsten Tag war die Linie schnurgerade.

  • Lesen Sie auch die Live-Berichterstatung zur EM von Main-Post Chef-Reporter Achim Muth

Das Abstreuen könnte stehen als Symbol für den DFB-Betrieb rund um die Nationalmannschaft, in dem längst kaum mehr etwas dem Zufall überlassen wird. Zum Team hinter Joachim Löw gehören acht weitere Trainer, darunter ein Yogalehrer, vier Physiotherapeuten, der Psychologe Hans-Dieter Hermann sowie Mitarbeiter aus den Abteilungen Scouting, Organisation und Sicherheit. Ein eigener Koch, Holger Stromberg, rührt in den Töpfen, und aus Marketinggründen wurde der Auswahl das Label „die Mannschaft“ verpasst.

Natürlich hat Rainer Ernst auch im deutschen EM-Quartierort Évian-les-Bains für die perfekte Spielwiese gesorgt.

Der neue DFB-Präsident Reinhard Grindel, der nach dem Sommermärchen-Beben aus Korruptionsvorwürfen und ungeklärten Geldströmen aus dem Bundestag ins Amt gespült worden war, hat jüngst erst die Kosten für das EM-Projekt vorgerechnet: Bei einem Titelgewinn stünden den Ausgaben von 23 Millionen Euro – inklusive der Prämien pro Spieler in Höhe von 300 000 Euro – Einnahmen von 25 Millionen gegenüber. Ein Aus in der Vorrunde würde mit acht Millionen Euro Ausgaben zu Buche schlagen. Die Einnahmen würden auf neun Millionen schrumpfen.

Aus in der Vorrunde? Die Rechnung dürfte für den Papierkorb sein, denn aufgrund des mit 24 Mannschaften aufgepumpten Turniers und des damit verbundenen neuen Modus' käme ein vorzeitiges Scheitern des Weltmeisters einer Sensation gleich.

Auch wenn Bundestrainer Joachim Löw im Herbst im Gespräch mit dieser Redaktion gestanden hat, dass er nach der Weltmeisterschaft 2014 einen Spannungsabfall gespürt habe („Es war eine schwierige Phase für mich, und ich habe Wochen gebraucht, um wieder Motivation zu finden“), so scheint er nun voll Energie. Nach 131 Partien (87 Siege) als Bundestrainer braucht der 56-Jährige die besondere Herausforderung, die so ein Turnier mit sich bringt. Löw liebt die Spiele um alles oder nichts, das hat er immer wieder betont. Dem Umbruch im Team nach dem Triumph von Rio mit dem Rücktritt von Führungsfiguren wie Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker folgten eine Phase der Orientierung und eine holprige EM-Qualifikation. Sechs Spieler aus dem aktuellen 23-Mann-Kader gaben ihr Länderspiel-Debüt erst in der Zeit nach der WM, und Thomas Müller gestand erst jüngst, dass es gedauert habe, „bis wir wieder Führung in die Mannschaft reinbekommen haben“. Zum Teambuilding gehörte nach Informationen der „Ludwigsburger Kreiszeitung“ am Mittwoch in Évian auch ein Tanzkurs mit den Weltmeister-Damen des 1. TC Ludwigsburg. „Die Jungs wollten Salsa und Discofox tanzen“, wird der TCL-Trainer Norman Beck zitiert. Sané und Kroos seien besonders talentiert gewesen.

Im Wiegeschritt zum Titel? Das Gerüst des Teams jedenfalls steht, Manuel Neuer, Jérôme Boateng, Sami Khedira, Thomas Müller, Mesut Özil, Mario Götze, Toni Kroos – sie sind die Fixsterne. Dazu kommen Benedikt Höwedes, Julian Draxler, Jonas Hector und so hoffnungsvolle Talente wie Leroy Sané, Joshua Kimmich oder Julian Weigl. Wenn es die Genesung zulässt, verstärken Mats Hummels und Bastian Schweinsteiger das Team, ihr Einsatz dürfte nach jetzigem Stand eher für die K.o.-Spiele in Frage kommen. Im Sturm gilt Mario Gomez als taugliche Alternative. Probleme bereitet nur die Abwehr. Dreier- oder Viererkette? Benedikt Höwedes innen oder außen? Oder doch Shkodran Mustafi? Antworten darauf wird es am Sonntag um 21 Uhr geben, wenn die deutsche Elf in Lille gegen die Ukraine ins Turnier starten wird.

Mit der Europameisterschaft hat der Bundestrainer mindestens noch eine Rechnung offen. 2008 unterlag er mit seinem Team um Michael Ballack und Co. eher chancenlos den Spaniern (0:1), schwerer zu knabbern hatte Löw vier Jahre später nach dem verlorenen Halbfinale gegen Italien (1:2).

Löw hatte sich mit der Aufstellung verzockt, die Kritik war heftig – der Coach tauchte mehrere Wochen unter. Aber er kam zurück und nahm in mehreren Interviews das Aus auf seine Kappe: „Ich hätte ja nichts aus diesem Spiel gelernt, wenn ich nach dieser Erfahrung nicht sagen würde, dass ich heute vielleicht anders aufstellen, anders reagieren würde.“

Das Ergebnis ist bekannt. Die Mannschaft wurde 2014 Weltmeister in Brasilien. Nun soll diese Ära mit dem EM-Titel gekrönt werden. „Klar ist, dass wir uns nicht aus der Favoritenrolle stehlen können. Der Weltmeister zählt automatisch zu den Kandidaten, aber es ist auch nicht so, dass der Weltmeister automatisch Europameister wird“, sagte Löw damals im Gespräch. Und wer glaubt, dieses Turnier wäre der Abschluss seiner zehnjährigen Amtszeit, den belehrte Löw schon da in einem Freiburger Hotel: „Wir haben große Ambitionen bei der EM, aber wir haben auch schon die WM 2018 im Blick, die Mission 2, die Titelverteidigung.“ Rainer Ernst sollte den Rasen für Russland schon mal züchten.
 

 
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