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Würzburg
Der Sport hat ein Kopfproblem
Wie schwerwiegend die Folge eines Kopftreffers sind, können viele Betroffene nicht abschätzen. Experten warnen vor Folgeerkrankungen, möglicherweise sogar mit Todesfolge.
Nationalspieler Christoph Kramer erlitt beim WM-Finale 2014 eine Gehirnerschütterung, spielte zunächst trotz Gedächtnislücken weiter.
Foto: Diego Azubel, dpa | Nationalspieler Christoph Kramer erlitt beim WM-Finale 2014 eine Gehirnerschütterung, spielte zunächst trotz Gedächtnislücken weiter.
Tim Eisenberger
 |  aktualisiert: 27.04.2023 07:43 Uhr

Michael Schulz ist Handballer bei den Rimparer Wölfen. Mit seinen 112 Kilogramm verteilt auf zwei Meter Körpergröße ist er eine imposante Persönlichkeit. Trotzdem reichte bei dem Kreisläufer vor einigen Jahren ein Wurf gegen den Kopf aus kurzer Distanz, um ihn in die Knie zu zwingen. Er verließ benommen das Feld und musste sich später auch übergeben. "Ich kam direkt ins Krankenhaus und hatte eine leichte Gehirnerschütterung", erzählt Schulz. Die Folgen eines solchen Unfalls werden oft unterschätzt. Das Concussion Center am Uniklinkum Würzburg (UKW) will für die Risiken sensibilisieren.

Die meisten Kopfverletzungen passieren im Amateurbereich

Gehirnerschütterung: Eine Diagnose, die nicht nur im Profisport alltäglich ist. Dr. Ingo Helmich von der Sporthochschule Köln stellte in einer Studie fest, dass ein Großteil der Kopfverletzungen im Amateurbereich passieren. Dort, wo professionelle Betreuung nicht vorhanden ist und Gehirnerschütterungen oft gar nicht direkt bemerkt werden.

Auch der 22-jährige Schulz berichtet, nach leichteren Schlägen gegen den Kopf, beispielsweise vom Ellenbogen eines Gegenspielers, häufig weitergespielt zu haben. Sorgen machte er sich jedoch bisher keine. "Beim American Football führt ein Zusammenprall manchmal zur Bewusstlosigkeit, so heftig war es bei mir bisher noch nicht", so der Handballer.

Was bei einem Verdacht auf Gehirnerschütterung zu tun ist
Welche sichtbaren Hinweise gibt es?
Bewusstseinsverlust oder verlangsamte Reaktionen sind deutliche Anzeichen für eine Gehirnerschütterung. Aber auch wenn eine Person unsicher auf den Füßen ist, sich häufiger an den Kopf fasst, den Kopf in die Hände stützt oder mit leerem, ausdruckslosem Blick nicht mehr fähig ist, dem Spiel oder den Geschehnissen zu folgen, sollte eine medizinische Behandlung erfolgen.
Welche Tests können am einfachsten durchgeführt werden?
Fragen stellen: An welchem Spielort sind wir heute? Welche Halbzeit ist jetzt? Wer hat in diesem Spiel zuletzt ein Tor erzielt? Gegen welches Team haben Sie im letzten Spiel gespielt oder hat Ihre Mannschaft das letzte Spiel gewonnen? Wenn eine dieser Fragen falsch beantwortet wird, besteht der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft empfiehlt dann ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Wann müssen Sportler geschützt und aus dem Spiel genommen werden?
Im Prinzip sobald es einen sichtbaren Hinweis gibt. Eine Rückkehr ins Spiel ist erst nach einer medizinische Untersuchung möglich. Ganz wichtig: Den Geschädigten niemals selbst ins Krankenhaus oder zum Arzt fahren lassen und nicht alleine lassen. Dies gilt auch, wenn die Symptome bereits abgeklungen sind.

Dabei hat eine "Concussion", wie Ärzte die leichte Gehirnerschütterung auch nennen, bereits eine leichte Veränderungen der Hirnfunktion zur Folge. Dramatisch wird es, wenn diese nicht erkannt wird. Denn die Folgeverletzung, etwa durch einen weiteren Schlag gegen den Kopf, die in Kontaktsportarten sehr häufig erfolgt, kann zu einer chronisch-traumatischen Enzephalopathie, kurz CTE, führen – eine neurologische Erkrankung mit Todesfolge, über die selbst Experten noch nicht alles wissen.

"Second Hit" birgt große Gefahr

CTE ist für Dr. Kai Fehske vom UKW ein ernst zu nehmendes Thema. Gefahr birgt vor allem der sogenannte "Second Hit", der zweite Schlag. Wenn es innerhalb von 48 bis 72 Stunden zu einem zweiter Kopftreffer kommt, kann das zu CTE führen. Um diese Krankheit in den Griff zu bekommen, muss vor allem ein Risiko-Bewusstsein geschaffen werden. Deshalb haben Fehske und seine Kollegen das Concussion Center Würzburg gegründet. Damit wollen sie mehr Aufmerksamkeit auf die Krankheit lenken, um auch Spieler wie Michael Schulz vor Langzeitschäden zu schützen.

Bereits im Jahr 2017 haben Forscher aus Boston in einer Studie 111 Leichen ehemaliger Footballer obduziert. Klinisch kann CTE aktuell nur post mortem, also Verstorbenen diagnostiziert werden. Bei 110 der Sportler stellten sie CTE fest. Zu den Symptomen gehören Gedächtnisverlust, Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen, Parkinsonismus, Sprechstörungen, verlangsamter Gang sowie Depressionen, Suizidrisiko, Aggressivität und Demenz.

Im Football wurden bereits die Regeln geändert

"Statistische Daten belegen: Wer nach einem Schädel-Hirn-Trauma zu früh in den Sport zurückkehrt, erhöht nicht nur das Risiko für eine erneute Gehirnerschütterung, sondern über eine reduzierte Reaktionsfähigkeit auch sein sonstiges Verletzungsrisiko", so Prof. Rainer Meffert vom UKW.

In den USA ist die Kritik an Vollkontaktsportarten wie American Football mittlerweile so immens, dass die National Football League (NFL) bereits die Regeln geändert hat: Angriffe gegen den Kopf werden mittlerweile hart bestraft.

Doch wie kann man sich schützen? Sobald der Sportler nach einem ersten Trauma lange genug pausiert und sich auskuriert, ist er auf der sicheren Seite. Als Schnellverfahren, beispielsweise am Spielfeldrand, hat sich mittlerweile das SCAT (Sports Concussion Assessment-Tool) bewährt. Hierbei testen Ärzte in sechs Schritten, ob Patienten auf verbale, körperliche und motorische Reize reagieren. Dann ermitteln sie aufgrund einer erreichten Punktzahl ein Ergebnis. Der Test dauert um die zehn Minuten. Ärzte können damit sofort feststellen, ob und in welchem Grad eine Kopfverletzung vorliegt. In der Eishockey-Bundesliga DEL ist er mittlerweile Pflicht.

"Man kann nicht sagen, dass Kopfbälle dumm machen."
Dr. Kai Fehske

In der Fußball-Bundesliga beobachtet man stattdessen regelmäßig, wie Ärzte Spielern einen Turbanverband anlegen und zurück aufs Feld schicken. Dabei bestätigen Experten wie Fehske, dass "mit einer Platzwunde wahrscheinlich auch eine Concussion einhergeht."

Kopfbälle scheinen dabei allerdings keine Rolle zu spielen: Schon 2011 veröffentlichte die US-amerikanische Radiologengesellschaft CSNA eine Studie zum Thema Kopfbälle im Fußball. Die Forscher behaupteten, dass ein Fußballer ungefähr 1000 bis 1500 Mal im Jahr unbedenklich köpfen kann. Danach könnte das Hirn Schaden nehmen. Diese These hält Fehske jedoch für falsch. "Das hat sich nicht bestätigt. Stürmer und Verteidiger haben zwar auffällige Testwerte im Gehirn, aber man kann nicht sagen, dass Kopfbälle dumm machen", so der Sporttraumatologe, der hofft, dass Kopfverletzungen endlich auch in Deutschland ernst genommen werden.

Concussion Center Würzburg
Das im November 2018 eröffnete interdisziplinäre Netzwerk am Uniklinikum Würzburg (UKW) hat es sich zum Ziel gemacht, Aufklärung, Diagnostik, Beratung und Prävention von Schädel-Hirn-Traumata zu verbessern. "Wir sind der festen Überzeugung, dass durch eine noch höhere Sensibilisierung der Sportler selbst, aber auch der Sportlehrer, Mannschaftsärzte, Trainer, Vereinsfunktionäre sowie sonstiger Entscheidungsträger und Verantwortliche noch viel dafür getan werden kann, Spätfolgen zu vermeiden", sagt Diplompsychologe Gerhard Müller von der Praxis für Sport-Neuropsychologie in Würzburg.
Außerdem will das Experten-Team Sportler auf ihrem Weg zurück ins Wettkampfgeschehen begleiten. Das Angebot besteht aus Beratung und Behandlung. Die betroffenen Sportler werden in enger Abstimmung mit Mannschaftsärzten, Trainern und anderen Entscheidungsträgern durch qualifizierte Fachkräfte begleitet und im Falle einer Kopfverletzung durch spezielle Untersuchungsmethoden sowie differenzierte medizinisch-therapeutische und neuropsychologische Behandlungskonzepte betreut. "Das Netzwerk ermöglicht es, dass unsere vielfältigen Diagnostikmethoden noch effektiver ineinandergreifen", erklärt Prof. Ralf-Ingo Ernestus. Eine vergleichbare Einrichtung gibt es deutschlandweit bisher nur in Hamburg.  
 
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