Zum ersten Mal seit zehn Jahren könnte der FC Bayern München an diesem Wochenende ohne Meisterschale nach Hause fahren. Unsere Redaktion blickt auf diese ausgesprochen spannende Bundesliga-Saison zuück. Welcher Spieler konnte sich in der Hauptrolle profilieren? Wer gewinnt den Oscar für die zweite Geige?
Der Oscar für den besten Hauptdarsteller geht an Sébastien Haller
Mit ihm leiden zu können. In die Herzen der Menschen vordringen. Über Superkräfte verfügen und das Böse besiegen. Schicksalsschläge wegstecken und für ein glückliches Ende sorgen. Das Drehbuch hätte man nicht besser schreiben können, in dieser Bundesligasaison kann der Preis für den besten Hauptdarsteller nur an Sébastien Haller vergeben werden.
Im Sommer hatte Borussia Dortmund den Angreifer aus Amsterdam zurück in die Bundesliga geholt. Mit ihm verband der Klub die Hoffnung, in irgendeiner Weise den Abgang von Superstar Erling Haaland aufzufangen. Dann die niederschmetternde Diagnose: Hodenkrebs. Doch, wie es sich für einen Helden gehört, Haller ist wieder aufgestanden. Hat gekämpft. Sich gewehrt, nie aufgegeben. Weiter, immer weiter. Nach zwei Operationen und Chemotherapien feierte der 28-Jährige im Januar sein Comeback. Emotional sein erster Treffer Anfang Februar gegen Freiburg. Und nun hat Haller maßgeblichen Anteil daran, dass Borussia Dortmund nach über einem Jahrzehnt wieder die Meisterschale gewinnen kann. Er verkörpert jenen treffsicheren Zielspieler im Angriff, den der FC Bayern München seit dem Abgang von Robert Lewandowski nicht mehr in seinem Kader hat.
Haller hat in den vergangenen neun Spielen für den BVB acht Treffer erzielt und vier vorbereitet. Mehr Hauptdarsteller geht im Meisterschaftsendspurt nicht. Fehlt noch das Happy End. Haller befindet sich in der Form, dafür selbst zu sorgen.
Johannes Graf
Der beste Nebendarsteller der Bundesliga-Saison ist der VAR
Nebendarsteller sind vorwiegend Handlanger des alles überstrahlenden Hauptdarstellers. So die graue Theorie. Oft jedoch besetzen sie die interessanteren, weitaus bunteren Rollen. Was wäre Harry Potter ohne Ron und Hermine? Oder Sherlock Holmes ohne seinen Assistenten Dr. Watson? Der Video Assistent Referee (VAR) nimmt eine dieser oft unterschätzten Rollen ein. Bringt unten im Kölner Keller Licht ins Regeldunkel, liefert Beweise von Heldentaten.
Doch, wie so oft, mit ihrer Nebenrolle begnügen wollen sich die wenigsten aus der zweiten Reihe. Also greift der Videobeweis ein, verändert Perspektiven, erzählt Geschichten neu. Seit sechs Jahren will er nicht mehr nur hinter der Kamera zuschauen, wie die Hauptdarsteller gefeiert werden, sondern drängt selbst in den Fokus. Zwiegespalten wird der VAR seit jeher betrachtet, als schwieriger Charakter bezeichnet. Keiner kann den Jubel über einen Siegtorschützen in der Hauptrolle derart schnell verstummen lassen. Unzählige Abseitsstellungen hat er aufgespürt, Schwalbenkönige abdanken lassen; zugleich hat er aber bei Handspielen im Strafraum zusätzliche Verwirrung gestiftet und teils zu noch umstritteneren Entscheidungen als je zuvor geführt. Mancher Hauptdarsteller wünscht sich, die VAR-Rolle sogleich aus sämtlichen Drehbüchern zu streichen, andere wünschen sich, diese umzuschreiben. Die Trainer sollten in einer sogenannten "Challenge" entscheiden dürfen, wann der VAR sich zu Wort meldet – und wann nicht.
Johannes Graf
Bestes Drama: Hertha erhebt das Scheitern zur Kunstform
Es ist ein Bild, das haften bleiben wird: Kevin-Prince Boateng, der Berliner, sitzt nach dem Abstieg seiner Hertha fassungslos im Mittelkreis. Der Abstieg des Klubs – besiegelt. Und dann: fade off. Fine. Die Geschichte des Klubs ist ein Drama, das im Stile der großen Meister gehalten ist. Es startet mit großen Hoffnungen, mit dem Traum vom Big City Club – und ist doch in seiner Konsequenz, dem grandiosen und vollumfänglichen Scheitern. Das Desaster scheint ab den ersten Minuten schon unausweichlich, dennoch kann keiner die Augen abwenden. Herthas Geschichte ist ein Fußball gewordener Film noir, komplett in schwarzweiß und in Berliner Originalfassung samt Untertiteln gehalten. Dem kongenialen Quartett Lars Windhorst,777 Partners, Michael Preetz und Fredi Bobic ist ein monumentales Biopic eines failing clubs gelungen.
Ein Starensemble um Jürgen Klinsmann, Salomon Kalou, Vedad Ibisevic, Bruno Labbadia und Pal Dardai in seiner Paraderolle als verzweifelter und letztlich erfolgloser Retter animiert sich zu Höchstleistungen, liefert das ganz große Drama. Die Katastrophe wird zur Kunstform erhoben, die wenigen Lichtblicke unter Dardais Vorgänger Sandro Schwarz nähren nur die Hoffnung auf perfide Weise, um dann den nächsten Rückschlag umso härter erscheinen zu lassen. Das schmerzt, das packt, das ist großes Autorenkino. Und es wird völlig zu Recht eine Fortsetzung geben: Hertha BSC Berlin reloaded – Second division, zero hope.
Florian Eisele
Als bester Regisseur formt Urs Fischer Union zum Spitzenteam
Einen Schweizer aus der Ruhe zu bringen, ist ein schwieriges Unterfangen. In der DNA unserer Nachbarn ist eine gewisse Gleichmütigkeit fest verankert. Womöglich ist diese Gelassenheit auch die ganz große Stärke von Urs Fischer. Weil der Trainer selten austickt, immer besonnen wirkt und das auch auf seine Mannschaft ausstrahlt. Union Berlin ist noch nicht lange Teil Deutschlands höchster Fußball-Liga. Daher ist es umso erstaunlicher, wie sich der Haupstadtklub entwickelt hat. Läuft alles am letzten Spieltag nach Plan, ziehen die Köpenicker sogar in die Champions League ein.
Baumeister dieses Werks ist der Schweizer Urs Fischer. Weil der 57-Jährige meist sachlich bleibt, allerdings auch klare Worte findet, wenn seine Mannschaft nicht so auftritt wie erhofft. Die Menschenführung sei seine Stärke, ist aus der Hauptstadt immer wieder zu hören. Die Berliner spielen selten mitreißenden Fußball. Sie verteidigen konsequent und ärgern jeden Gegner mit ihrer Kompromisslosigkeit. Fischer weiß, was seine Spieler können – und was nicht. Und genau danach richtet er seine Matchpläne aus. Oftmals mit Erfolg, wie die Tabelle zeigt.
Ein besonnener Regisseur ist selten eine schlechte Idee. Fischer arbeitet zurückhaltend, in wichtigen Momenten aber auch impulsiv. Er lässt seinen Spielern Raum zur Entfaltung, bremst aber auch rechtzeitig ein, wenn ihm das Treiben zu bunt wird. Der Schweizer Fischer ist im quirligen Berlin der Ruhepol. Und damit der Garant des Erfolgs.
Marco Scheinhof
Julian Nagelsmann gewinnt mit farbenfrohen Style das beste Outfit der Saison
Hier mal eine knallrote Jacke, dort mal eine Hochwasserhose, dazwischen etwas wild Kariertes, das den Kontrast des Fernsehers an seine Leistungsgrenze bringt: Julian Nagelsmannüberraschte in seiner Zeit beim FC Bayern nicht nur den Gegner (und offenbar auch die eigene Vereinsführung) mit der Aufstellung, sondern auch die Zuschauer bei der Auswahl seiner Garderobe. Sehr wahrscheinlich gibt es keinen Bereich des Farbspektrums, der nicht schon mal an dem mittlerweile Ex-Bayern-Trainer zu sehen war.
Auch wenn es zum Ende seiner Amtszeit etwas bedeckter wurde, geht der Style-Oscar also klar an dem mittlerweile vereinslosen Coach. Nagelsmann ist auch in einer anderen Hinsicht gut davongekommen: Er ist der einzige Protagonist, der beim Trainerbeben des FC Bayern eine gute Figur macht. Die Vereinsführung um den FCB, die sich weder bei der Art und Weise des Trainerwechsels noch bei dessen unmittelbaren Folgen übermäßig viele Meriten erworben hat, dürfte hingegen zu den klaren Verlieren der Personalentscheidung zählen. Und auch das Ansehen von Thomas Tuchel hat in dessen kurzer Amtszeit in München erhebliche Kratzer bekommen: Innerhalb weniger Tuchel-Wochen befand sich der FC Bayern derart im Krisenmodus, dass sich so mancher Fan den vorherigen Trainer Nagelsmann zurückgewünscht haben dürfte, in all seiner farbenfrohen Pracht. Sehr wahrscheinlich wird sehr bald ein anderer Verein den Style-Experten an der Seitenlinie haben.
Florian Eisele
Spiele ohne Happy End: Der FC Augsburg verspielt viele Führungen
Es ist aber auch zu blöd, dass so ein Fußballspiel 90 Minuten dauern muss. Beinahe so wie ein guter Spielfilm, wobei sich die Filmemacher von heute kaum mehr an diese Tradition halten. Sie packen ihren Inhalt oftmals in deutlich mehr Minuten. Das passiert hier und da bei Fußballspielen auch, der Nachspielzeit sei Dank.
Würden sich die Regelhüter allerdings auf eine Verkürzung der Spielzeit einigen, der FC Augsburg könnte sogar von Europa träumen. So aber haben es die Augsburger geschafft, 23 Punkte in dieser Bundesliga-Saison noch zu verspielen. In Partien, in denen sie geführt hatten, nur, um am Ende unentschieden zu spielen oder sogar noch zu verlieren. Ein ähnliches Talent, starke Anfangsphasen nicht zu vergolden, hat auch der FC Bayern München.
Auswirkungen könnte das am letzten Spieltag für beide Mannschaften haben. Die Münchner werden wohl nicht deutscher Meister, was junge Anhänger des Rekordchampions so gar nicht glauben können. Kennen sie die Fußball-Welt doch nur mit dem FC Bayern an der Spitze. Und dem FCA droht sogar noch ein Gang in die Relegation. Zwei Punkte beträgt nur noch der Vorsprung.
Starke Anfangsphasen sind auch eine Qualität. Richtig ertragreich aber sind sie nur, wenn auch der Rest der Spielzeit einem ähnlichen Niveau gleicht. An der Konstanz aber hapert es in dieser Saison. Vor allem auswärts. Dumm, dass der letzte Spieltag für die Augsburger in Mönchengladbach stattfindet.
Marco Scheinhof