
Es ist ein Frühlingsabend in seidenweicher Luft, im mondänen Luftfahrtklub von Dubai. Boris Becker sitzt am Tisch, er ist in diesem Moment noch der Coach des damaligen Tennis-Weltranglisten-Ersten Novak Djokovic. Becker hat ein Glas Rotwein vor sich, ab und zu steckt er sich einen Zigarillo an. Es soll eigentlich um Djokovic gehen, um diesen Trainerjob, aber an diesem sehr entspannten Abend am Arabischen Golf geht es schnell um viel mehr. Es geht um sein ganzes Leben, um die Höhen und Tiefen, die er durchmessen hat.
Auf der Flucht
Es geht um die Brüche, die Verwandlungen, es geht auch um einen Becker, der immer auf der Flucht gewesen ist. Auf der Flucht, festgelegt zu werden. Vereinnahmt zu werden. Becker war nie ein einziger Becker. Sondern ganz viele Beckers. Er war sehr früh und sehr entschlossen auch derjenige, der sich gegen die allzu innige öffentliche Umarmung auflehnte. Und der sich später über Kreuz legte mit Deutschland, mit allen, die meinten, ihm jeden Tag Ratschläge geben zu müssen.
Beckers Gesicht rötet sich an diesem Abend, als er auf dieses Thema zu sprechen kommt, eines seiner Lieblingsthemen: „Ich bin niemandem etwas schuldig. Ich lebe mein Leben, wie es mir gefällt“, sagt er. Und natürlich fällt dann auch dieser Satz, den er in den letzten Jahren immer wieder gesagt hat: „In Deutschland glauben viele immer noch, dass ich der 17-jährige Bursche bin, der Wimbledon gewonnen hat.“
Vier Kinder von drei Müttern
Tatsächlich ist Becker ja der, der in diesem blutjungen Alter Wimbledon gewonnen hat. Aber er ist eben jetzt der Mann, der an diesem Mittwoch seinen 50. Geburtstag feiert. Er hat vier Kinder von drei verschiedenen Müttern, er ist der Chef einer bunten Patchwork-Familie, er lebt mit Frau Lilly und Sohn Amadeus längst in London, ganz bewusst weg von diesem schwierigen Deutschland, das er fasziniert hat als mitreißender Tennissolist. Und das ihn immer auch ein wenig argwöhnisch beäugt hat in den vielen Jahren nach der Profikarriere, in denen er nicht selten wie ein Hasardeur wirkte. „Ich bin dankbar, dass ich in London eine Heimat gefunden habe. Mit Menschen, die mich hier gut leben lassen“, sagt Becker, „direkt neben einem Ort, der mir so viel bedeutet.“
Was eine monströse Untertreibung ist: Denn Becker meint mit diesem Ort Wimbledon, das mythisch umrankte Tennisareal, dessen Centre Court er aus dem obersten Geschoss seines Hauses sehen kann. Wenn man so will, haben sich Becker und Wimbledon stets fest im gegenseitigen Blick. Was bedeutet ihm Wimbledon heute noch? „Es ist der Ort meiner zweiten Geburt“, sagt Becker, „da fing ein anderes Leben an.“
Fast alles hat was mit Wimbledon zu tun
Fast alles, was in seinem Leben passierte, hat mit Wimbledon zu tun. Mit diesem 7. Juli 1985, an dem er den Matchball gegen den Südafrikaner Kevin Curren verwandelte und zum (bis heute) jüngsten Turniersieger in der Geschichte wurde. Von einer Sekunde zur anderen sei er „in ein anderes Universum geschleudert worden“, sagt Becker in dieser Nacht in Dubai, „ich wollte natürlich immer ein großer Sieger sein. Aber was es bedeutet, Wimbledonsieger zu sein, wusste ich nicht.“ Es begann ein Leben ohne Beispiel, ein Leben, das vor allem auch davon geprägt war, dass Becker gegen den Strom schwamm. Gegen die Erwartungen. Gegen die deutsche Wunschvorstellung, wie er als Idol sein sollte.
Noch immer klingt diese Wut durch, wenn Becker nun, vor dem halben Hundert Lebensjahren, in einem Interview sagt: „Ich war nie Euer Boris. Und ich bin nicht Euer Boris.“ Und was er jetzt kühl anmahnt, nämlich der Herr Becker zu sein, das verlangte er Reportern auch schon früh ab, die ihn wie selbstverständlich im Kumpelton duzten.
Das Verrückte an Becker ist auch dies: In all den Aufgeregtheiten, in all dem Wirbel und allen Wirren seines Lebens ist er sich doch auch treu geblieben – als jemand, der sich nicht greifen lässt und sich auch nicht greifen lassen will. „Bei mir weiß man nie, was kommt“, sagt Becker ganz trocken, „ich weiß es oft selbst nicht.“ So war das ja auch in jenen Jahren, in denen er über die Kontinente und durch die Zeitzonen jettete. Und es war eben jene buchstäbliche Unfassbarkeit, die seine Magie ausmachte: Das Schwanken zwischen den Extremen, manchmal in einem Spiel, manchmal über ganze Jahre.
Tennis ist eine Religion und Boris Becker ihr Gott
Becker konnte Spiele drehen, die verloren schienen. Und Spiele verlieren, die er eigentlich schon gewonnen hatte. Er fesselte die ganze Nation vorm Fernseher, er war ein Phänomen, in seiner Zeit der mitreißendste Tennisspieler, einer der bewegendsten Einzelsportler überhaupt. Er war größer als sein Sport selbst. Alles, was er tat, wurde zur Staatsaffäre, wurde von Literaten wie Martin Walser („Tennis ist eine Religion. Und Becker ist ihr Gott“) genau so wie von Bundespräsident Richard von Weizsäcker kommentiert. Hinter Beckers Dramen verschwanden sogar Auftritte der Fußball-Nationalmannschaft. Auch die Attitüde des Rebellen, die er zuweilen pflegte, war nationales Gesprächsthema, etwa, als er sich auf die Seite von Hausbesetzern in der Hamburger Hafenstraße schlug. Wie blickt er auf diese Zeit zurück? „Es war ein Leben, ständig am Limit. Ein verrücktes Leben. Ich hatte mit 20 schon mehr erlebt, als andere mit 100 Jahren“, sagt Becker.
Es war allerdings auch so, dass Becker nicht leben konnte ohne die Anstrahlung des Scheinwerferlichts. Mit dem, was er selbst „Öffentlichkeit“ nannte, verband ihn immer eine Hassliebe. Er genoss seine Bekanntheit, seine Popularität. Und er verfluchte sie im nächsten Moment. Und daran hat sich auch nicht viel geändert in all den Jahren bis zu seinem Fünfzigsten jetzt – an Becker und dem Thema Becker war nie ein Mangel. Auch nicht, weil sich ein zweiter einschneidender Moment in seinem Leben – wiederum im Umfeld von Wimbledon – abspielte, bei seinem allerletzten Tennisturnier, am Abend nach seinem finalen Match gegen den Australier Pat Rafter. Becker war in jenem Juli 1999 schon Familienvater, er hatte mit seiner Frau Barbara einen Sohn, Noah, und das Ehepaar war in guter Erwartung des zweiten Kindes.
Besenkammer?
Und dann dies: Nachdem Becker mit deutschen Journalisten beim gemeinsamen Plausch über das letzte Wimbledon und das neue Leben schon ordentlich gezecht hat – am Ende stehen Dutzende Becks-Flaschen auf dem Tisch des Deutschen Hauses in Wimbledon –, lässt er sich in die Londoner City chauffieren. Später an diesem Abend zeugt er mit der zufälligen oder nicht so zufälligen Bekanntschaft Angela Ermakowa eine Tochter. Drei Monate später flattert einer Rechtsanwaltskanzlei Beckers ein Faxschreiben auf den Tisch, in dem die Schwangerschaft von Frau Ermakowa bekannt gegeben wird. Und als Vater Boris Becker identifiziert wird.
Vieles von dem, was auch in den letzten Monaten über Becker geschrieben und bekannt wurde, ist auf diesen letzten Tag seiner aktiven Karriere zurückzuführen. Denn Beckers Leben danach, nach den Hundejahren auf der Tennistour, war plötzlich ein ganz anderes geworden, als er sich ausgemalt hatte. Beckers Ehe ging in die Brüche, ein öffentlicher Scheidungsprozess zog sich quälend hin. Becker musste schließlich zahlen, zahlen, zahlen. Für den Unterhalt nicht nur an seine Ex-Frau Barbara, sondern auch an die Ermakowa-Familie.
Im Chaos der familiären Verwicklungen blieb auch der Geschäftsmann Becker oft ohne Fortüne – wie man inzwischen weiß, begann in jener Zeit auch das Schuldendilemma Beckers. Ganz offensichtlich gab er schlicht mehr Geld aus, als er zur Verfügung hatte. Was einen wie Beckers großartigen ersten Manager Ion Tiriac nur den Kopf schütteln lässt, ihn, den rumänischen Milliardär mit der Finstermiene: „Zu unserer gemeinsamen Zeit war er der reichste Sportler der Erde. Er hätte mühelos bis ans Lebensende mit diesem Geld leben können.“ Selbst trotz aller dieser unvorhergesehenen privaten Verpflichtungen.
Tiriac ist auch so einer, ohne den das Leben Beckers nicht zu erklären ist. Der gerissene Dealer hielt in den ersten Jahren von Beckers Karriere den Laden zusammen, nie hatte Becker einen besseren und ausgeschlafeneren Berater in allen Lebensangelegenheiten. Aber Becker verstieß ihn Anfang der 90er Jahre, so wie er später auch immer wieder Freunde oder Trainer verstieß. „Ich bin immer ein Einzelgänger gewesen. Ein einsamer Wolf sogar“, sagt er, „ich habe auch nicht viele, die ich Freunde nennen würde.
“ Erklärt das auch die Schwierigkeiten, die der Privatier und Geschäftsmann Becker hatte? Er hat jedenfalls immer geglaubt, er könne die Dinge auch gut und gerne allein regeln, irgendwie, irgendwann, mit irgendwem.
Der Spieler
Aber nie hatte er so hellsichtige Köpfe an seiner Seite wie Tiriac oder später auch noch einmal den Münchner Rechtsanwalt Axel Meyer-Wölden. Der Titel, den die ARD eben einer längeren Betrachtung Beckers widmete, muss Becker sicher gefallen haben: „Der Spieler“ heißt dieses Porträt, und so sieht er sich auch jetzt noch immer am liebsten. Als Spieler, der allein auf dem Court die Entscheidungen fällte. Oder später auch mal als Firmenchef oder am Pokertisch. Sein gelegentliches Scheitern im Big Business verklärt er dabei auch liebevoll: „Ich habe vieles probiert, vieles hat auch nicht geklappt. Aber das geht doch jedem so.“ Nur spielte auch nicht jeder mit so hohen Einsätzen wie er, wie Becker.
Nein, langweilig ist es einem nie geworden mit diesem Becker. Niemals seit den Julitagen des Jahres 1985 bis heute, bis zu seinem 50. Geburtstag. Er hat auch jetzt noch die Seite 1-Garantie, Kameras umschwirren ihn auf Schritt und Tritt. Und gerade in den letzten Monaten und Jahren war Becker so präsent wie in den großen Centre Court-Tagen. Noch einmal Nummer 1, Wimbledonsieger und Weltmeister mit seinem Schützling Novak Djokovic, dann die selbst gewählte Trennung vom Trainerjob, der Einstieg als TV-Experte beim Sender Eurosport, Lobeshymnen für den präzisen, launigen Kommentator.
Und im nächsten Moment die Hiobsbotschaften über den Pleitier Becker, die Millionenschulden, den vorgeblichen Horrorberg von 40 oder 60 Millionen Euro Miesen. Und dann, im wieder nächsten Moment, die Rückkehr ins deutsche Tennis, als Chef der Männerabteilung. Großer Bahnhof in Frankfurt bei der Amtseinführung, Liveübertragung auf mehreren Kanälen. Und, ganz nebenbei, auch noch die mediale Aufmerksamkeit für den Patienten Becker, der in den sozialen Netzwerken über seine Sprunggelenks- oder Hüftgelenksoperation berichtet.
Eine der letzten Fragen an diesem Abend in Dubai lautet, was Glück für ihn bedeute. Beckers Antwort kommt schnell, ohne langes Nachdenken: „Glück, das hat nichts mehr mit Tennis zu tun. Ich habe vier gesunde Kinder. Ich habe eine Familie, auf die ich sehr stolz bin. Das alles zählt mehr als alles andere, ist wichtiger als der Sieg auf dem Centre Court und das ganze Geld. Dieses Glück kann man nicht kaufen.“