
Er greift in einen Mülleimer. Zwischen Zeitschriften, Hundekotbeuteln, den Resten einer asiatischen Nudelbox und Kaffeebechern zieht er eine Colaflasche heraus. Mehrweg, 25 Cent. Einen "Ferrari" nennt Christoph Brecht (*Name geändert) diese Flaschen. Im Vergleich zu Bierflaschen bringe sie am Pfandautomat drei Mal so viel. In viele weitere Mülleimer greift er an diesem Tag. Meistens vergebens.
Brecht ist einer von vielen, die sich durch Pfandflaschensammeln etwas dazuverdienen. Sozialhilfe beziehe er nicht, sagt der 26-Jährige. Er wohnt zur Miete im Schweinfurter Stadtteil Bergl. Weil ihm das Lernen schwer fällt, arbeitet er bei der Lebenshilfe als Produktionshelfer für die Großindustrie. Der Selbsthilfeverband möchte Menschen mit geistiger Behinderung in Schweinfurt die Möglichkeit bieten, sich im Arbeitsmarkt einzubringen.
Auf dem Heimweg nach Feierabend beginnt Brecht zu sammeln. Auch an den Wochenenden ist er unterwegs. An Bushaltestellen, im Park und an Bahnhöfen wird er häufig fündig. "Wo viele Leute sind, gibt es viele Flaschen", heißt die Grundregel unter den Flaschensammlern. Brecht sammelt seit zehn Jahren regelmäßig Pfand – und kennt einige Tricks. Um sich beim Wühlen im Müll nicht an Scherben zu verletzen, trägt er schnittfeste Handschuhe. "Im Sommer sind die viel zu hieß, aber es muss sein", sagt Brecht bei einer Tour durch die Innenstadt.
Wie viele Menschen in Unterfranken regelmäßig Pfand sammeln, weiß niemand. Anfragen beim Landesamt für Statistik und zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen bleiben ergebnislos. Auch Straßenambulanzen können die Zahl der Pfandsammler nicht schätzen, das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales ist ratlos: "Normalerweise versuchen wir Anfragen weiterzuleiten, wenn wir sie nicht beantworten können", sagt ein Sprecher des Ministeriums am Telefon. "Aber wir wissen nicht, wohin."

Wochenenden sind Pflichttage für Flaschensammler. "Heute ist Samstag, da steht am Bahnhof vielleicht noch was von gestern rum", sagt Brecht auf seiner Tour durch die Stadt. Er hofft, dass Jugendliche in Würzburg feiern waren und leere Bierflaschen an den Haltestellen abgestellt haben. An jedem Mülleimer hält er an, späht durch die Öffnung, greift dann hinein. Er muss den Müll anheben, um verborgene Flaschen zu entdecken. Am Bahnhof "Stadtmitte" eine Flasche im Wert von acht Cent.
Seit ihn das Sicherheitspersonal der Deutschen Bahn einmal angesprochen hat, ist der Sammler an Bahnhöfen vorsichtig geworden. "Ich würde die Wohlfühlatmosphäre an den Gleisen stören", sagt Brecht kopfschüttelnd. Die Bahn teilt auf Anfrage schriftlich mit: "Herumliegender Müll aus durchsuchten Abfallbehältern verunreinigt den Bahnhof, stört das Sauberkeitsempfinden und kann zum Absinken des subjektiven Sicherheitsgefühls der Bahnhofsbesucher führen." Das Unternehmen möchte, "dass sich alle Bahnhofsbesucher und Reisende in unseren Bahnhöfen wohlfühlen." Das Sammeln von Pfandflaschen sei dort deshalb grundsätzlich nicht gestattet.
Ansonsten stößt Brecht selten auf Ablehnung. Jugendliche hätten ihn einmal "blöd angemacht" und gefragt, was er da tun würde. Er ignorierte sie. "Das mit dem Sammeln muss nicht jeder wissen", sagt Brecht. Unangenehm sei es ihm nicht, wenn Passanten beobachten, wie er in Mülleimern wühlt. "Ich blende die Leute aus", sagt Brecht. "Die Leute sind da, aber für mich sind sie nicht da". Den Satz hat er aus einem Video. Auf Youtube hat sich der Schweinfurter mehrerer Reportagen über Pfandsammler angesehen. Man könne da noch etwas lernen – die Sache mit den schnittfesten Handschuhen zum Beispiel.
In einem Video hat er auch erfahren, wie man städtische Mülleimer öffnet. "Im Baumarkt habe ich mir einen Vierkant besorgt", sagt er und holt seinen Schlüsselbund hervor. Mit dem Werkzeug daran kommt er durch die geöffnete Klappe mühelos auch an Flaschen, die er bisher mit einem Stock aus dem Mülleimer fischen musste. Ob das erlaubt ist, weiß er nicht so genau.


Es ist nicht erlaubt – zumindest nicht in Schweinfurt und Würzburg. Strenggenommen geht der Inhalt der Abfallbehältnisse durch das Einwerfen in den Besitz der Stadt über, teilen die Verwaltungen mit. "Wir weisen die Sammler auf das Verbot hin und untersagen die Entnahme", schreibt eine Sprecherin der Stadt Schweinfurt. Bußgelder und sonstige Strafen seien bislang nicht verhängt worden. In Schweinfurt wie in Würzburg haben sich die Stadträte sich gegen sogenannte Pfandringe entschieden. Darauf können Passanten ihre Flaschen abstellen, damit Bedürftige nicht in den Müll greifen müssen. "Mir würde es schon helfen, wenn die Leute ihre Flaschen neben den Mülleimer legen", sagt Brecht.
An diesem Tag findet der Schweinfurter einige Plastikflaschen entlang des Mains. Nicht nur in Mülleimern, auch am Wegesrand. Wenn er nach einem Nachmittag mit neun Euro nach Hause kommt, ist er sehr zufrieden. An diesem Tag ist es regnerisch, was seine Erwartungen dämpft. Aber er sei ja nicht auf das Geld angewiesen. "Für mich ist das wie Taschengeld." Brecht ordnet sich selbst der Mittelschicht zu. "In einem Schloss wohne ich nicht, aber arm bin ich auch nicht." Armut sei eben auch eine Frage der Perspektive. "Arm sind die Anderen", sagt Brecht und meint damit die Obdachlosen. "Denen klaue ich das Pfand nicht vor der Nase weg".
Seit Oktober gibt es sogar eine App von Berliner Studenten, die Flaschensammlern das Leben einfacher machen möchte. Nutzer können darüber Sammler im eigenen Stadtteil kontaktieren und leere Pfandflaschen abholen lassen. "Dadurch profitieren beide Seiten. Pfandgebende werden ihre angesammelten Flaschen los, Pfandnehmenden wird die Suche nach Pfand erleichtert", heißt es auf der Webseite des Projekts "Pfandgeben.de" einer Berliner Hochschule. Auch Brecht ist dort registriert, gemeldet hat sich aber noch niemand bei ihm.
Brecht sammelt immer allein. Andere Sammler kennt er nur flüchtig. Konkurrenz untereinander, oder Revierkämpfe hat er nicht erlebt. Der Schweinfurter ist das, was die Wissenschaft einen "Routensammler" nennt. Der Soziologe Sebastian Moser hat für seine Dissertation eine Feldstudie über Pfandsammler durchgeführt. Als wichtigste Lektion bezeichnet er, "dass man nämlich Flaschensammler schwerlich an ihrem Äußeren erkennen kann". Die Routensammler unterscheidet er von den "Veranstaltungssammlern". Wie Maria Krämer.
Krämer steht draußen am Eingang des Fußballstadions am Dallenberg in Würzburg. Drinnen werden die Kickers gegen Preußen Münster gewinnen. Doch davon bekommt die Pfandsammlerin nicht mit. Sie hat Bananenkisten vor der Einlasskontrolle aufgestellt. Fans müssen ihre Bierflaschen loswerden, bevor ins Stadion dürfen. Viele legen die Flaschen wie selbstverständlich in die Kisten, andere geben sie Krämer in die Hand.

Im Müll will Krämer nicht wühlen – von sich erzählen auch nicht. Auch ihr Name ist deshalb geändert. Nur so viel: Beruflich verziert sie Kerzen. Sie sei weder arm, noch bedürftig. Nicht nur vor dem Stadion sammelt sie, auch beim Musikfestival "Umsonst & Draussen" steht sie vor dem Eingang. "Ich fände es schade, wenn das Geld im Müll landet." An einem guten Tag kämen 50 Euro in wenigen Stunden zusammen. "Außerdem kommt es der Umwelt zugute, wenn wir die Flaschen entsorgen", sagt die vielleicht 50-jährige Frau.
"Wer Flaschen in das Gebüsch wirft, wird nicht so krumm angeschaut, wie die, die die Flaschen aufheben", klagt Krämer als sie vor dem Stadion hin- und hergeht. Ihr Blick ist gesenkt. Nicht, weil sie sich schämen würde, für das, was sie tut, sondern weil die Flaschen auf dem Boden liegen. Nicht jeder nimmt den Wink mit der Bananenkisten an.

Seit die Kickers abgestiegen sind, kommen weniger Fans. Weniger Fans bedeuten weniger Flaschen. Seitdem seien es auch weniger Sammler am Stadion, berichtet Krämer. An diesem Tag steht außer ihr nur ein älterer Mann vor dem Stadion. Er spricht schlecht Deutsch, seine Haare sind ordentlich gekämmt, das Hemd ist bis unter den Kragen geschlossen. Der Rentner wohnt im Stadtteil Zellerau und kommt mit der Straßenbahn. Schwere Glasflaschen kann er nicht tragen, er geht, sobald sein Beutel mit Plastikflaschen voll ist. Unter der Woche trägt er Zeitungen und Anzeigenblätter aus.
Im Stadion wird kurz vor dem Spiel die Frankenhymne angestimmt. Für die Sammler bedeutet dies: bald Feierabend. "Jetzt kommen nur noch ein paar Nachzügler – die nehmen wir noch mit", sagt Krämer. Eine weitere Frau kommt hinzu, "eine Kollegin", sagt Krämer. Sie holt die Bananenkisten mit den Flaschen ab und fährt zusammen mit Krämer zum Supermarkt, um das Pfand gegen Geld einzutauschen. "Das kommt auf ein separates Konto". Ob sie Sozialhilfe empfängt, möchte Krämer nicht offenlegen.

Christoph Brecht erzählt, dass ein Freund seiner Mutter Hartz IV bekommt. "Der hat sich das eine Zeit lang aufgebessert durch das Sammeln. Durch ihn bin ich auf die Idee gekommen." Flaschensammlern, die Hartz VI beziehen, kann die Sozialleistung theoretisch gekürzt werden. Wer Pfand im Wert von mehr als 30 Euro im Monat sammelt, überschreitet den Freibetrag und müsste dies beim Jobcenter melden. Aber weder in Würzburg, noch in Schweinfurt ist den Ämtern ein solcher Fall bekannt.
Über seine Einkünfte führt Brecht nicht Buch. Er sei ja nicht auf das Pfandgeld angewiesen und rechne deshalb seinen Stundenlohn nicht aus. Nach zweieinhalb Stunden Suche hat er für heute genug. Der Regen ist stärker geworden. Im Supermarkt druckt der Pfandautomat einen Bon aus: 4,73 Euro. Brecht sagt: "Das ist okay."
