Der Stein in der Stromschnelle trifft den Bug mit Wucht. Das Boot dreht sich – und kippt in die Wellen. Das Kentern und ein aufziehendes Unwetter beenden die Reise auf dem Main noch am ersten Tag. Mindesten 15 Jahre ist das nun her. Im Kanu wollte ich damals den Oberlauf des Flusses von Mainleus bis Bamberg befahren. Völlig durchnässt suchte ich Schutz vor dem Gewitter – und wartete schließlich unter einer Brücke darauf, abgeholt zu werden.
Meiner Faszination für den Fluss hat diese Erfahrung keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Der Main strahlt Kraft und Beständigkeit aus, ein ruhender Gegenpol zur heutigen Turbogesellschaft, trotz seiner mitunter wilden Seiten. Er ist Lebensader und stiftet Identität, führt nicht nur Wasser, sondern auch Waren in die Welt.
Schon vor langer Zeit fasste ich deshalb den Entschluss, es noch einmal zu wagen. Diesmal sollte Würzburg das Ziel sein. Der Plan: 218 Flusskilometer, acht Tage im Faltboot, sieben Nächte im Zelt – ohne zu kentern.
Mit dem ersten Paddelschlag am frühen Morgen fällt die Anspannung ab. Die vergangenen Tage waren vollgestopft mit Vorbereitungen, Fragen, Sorgen: Wird das Boot genug Platz für die Ausrüstung bieten? Der Fluss genug Wasser führen? Das Wetter halten?
Unberechtigt. Nun scheint die Frühsommersonne nahe Mainleus, wo meine Reise startet. Unweit des oberfränkischen Ortes, in dem ich aufgewachsen bin, finden die beiden Quellflüsse zueinander – der Rote und der Weiße Main. Nahe Kulmbach vereinigen sie sich.
Auch am Oberlauf ist der Main kein Wildwasserfluss
Schlag um Schlag um Schlag folge ich dem Wasser, begleitet von Mückenschwarmstürmen, dem Ruf des Kuckucks und fliegenden Weidensamen, die anmuten, als wäre der Winter zurückgekehrt. Wer sich den Oberlauf des Mains als zügellosen Wildwasserfluss ausmalt, irrt. Der Mensch hat sich in den vergangenen Jahrhunderten auch dieses Stück Natur genommen. Kleine Wehre besetzen den Fluss und führen das Wasser über Kanäle in Kraftwerke, die der Stromerzeugung dienen. Wer hier unterwegs ist, muss sein Faltboot mühevoll um die Stauanlagen tragen, Wege gib es meist nicht.
Sechs solcher Bauwerke versperren den Main alleine auf meiner ersten Tagesetappe, die nach 27 Kilometern in Lichtenfels enden soll. Die Stauanlagen wechseln sich ab mit kleinen Stromschnellen - auch jener, die vor 15 Jahren mein Scheitern eingeleitet hatte. Kurz vor dieser Stelle fließt der Fluss ruhig und friedlich. War es diese Behäbigkeit, die mir damals die Vorsicht nahm? Diesmal ist alles anders: Der Ritt ist kurz und erfolgreich. Trocken erreiche ich den Zeltplatz.
Während in meinen Arme noch die Anstrengungen des Vortags steckt, geht es nach einer kurzen Nacht weiter flussabwärts. In Hausen wartet das letzte Wehr des Obermains. Bei seinem Bau besaß diese Stauanlage das erste Hebewerk der Welt für Faltbootfahrer. 1956 wurde es entfernt. 66 Jahre zu früh, denke ich mir, während ich mein Gefährt ein letztes Mal aus dem Wasser wuchte. Von nun an mäandert der Main frei durch die Natur, bildet besonders abwechslungsreiche Auenlandschaften, Kies- und Sandinseln, Biotope für Pflanzen und Tiere. Graureiher waten durch das Wasser, Gänse bedienen sich am Hahnenfuß, der in den Stromschnellen gedeiht.
Sogenannte Sohlschwellen, künstlich angelegte Steinaufschüttungen, bremsen den Fluss und verhindern dessen Erosion. Deutlich schneller sind die Menschen unweit des Ufers unterwegs, denn im Obermaintal fließt auch der Verkehr. Für jene, die es eilig haben, sind Zugtrasse und Autobahn 73 längst die wichtigere Lebensadern. Die Strömung und die Paddelschläge tragen mich am dritten Tag gemächlich bis Bischberg im Landkreis Bamberg.
Der Fluss endet, die Wasserstraße Main beginnt
Der Fluss endet hier. Denn während der Main am Oberlauf – teils wild, teils beständig – Schleifen in die Landschaft gräbt, wartet ab Bamberg die Wasserstraße. Ab hier dient der Strom dem Menschen, um Waren und Personen zu befördern, gleich einer Autobahn. Mein Blick reicht nun weit geradeaus, die Kurven sind lang, der Kanal ist breit, das Ufer mit Steinquadern befestigt. Einzig die Wellen der Kähne und Kreuzfahrtschiffe sorgen nun noch für Abwechslung.
Der vierte Tag beginnt, das Aufbrechen ist bereits Routine: Aufstehen, Frühstück, Katzenwäsche, Isomatte und Schlafsack packen, Zelt abbauen, die Ausrüstung im Boot verstauen, Sonnencreme auflegen - ablegen. Mit dem, was mich von heute an erwartet, habe ich keine Erfahrung: 14 Staustufen, die sich nur durch Schleusen überwinden lassen, liegen bis Würzburg vor mir. Kajaks und Kanus nutzen üblicherweise kleine Sportbootschleusen, die sich in den Wehrarmen befinden. Nicht bei der ersten Staustufe nahe Viereth. Weil Arbeiter das Wehr gerade sanieren, kontaktiere ich den Schleusenwart.
Ein tiefer Seufzer dringt durch die Leitung, als ich am Telefon meinen Wunsch äußere, im Gepäck der großen Kähne zu schleusen. Bislang sei kein Binnenschiff in Sicht. Wie weit es denn gehen soll? "Heute bis Haßfurt", erwiderte ich. Der nächste Seufzer: "Na, dann will ich mal nicht die erste Bremse sein", raunt der Schleusenwart. "Wenn sich Tor öffnet und die Lampe nicht grün wird, ruf' nochmal an. Dann hab' ich Dich vergessen." Er lacht. Ich auch. Er über seinen Scherz, ich aus Verzweiflung. Ich ahne, dass die Etappe heute aus reichlich Wartezeit bestehen könnte. Mein Blick geht in den Himmel: Über Unterfranken ziehen dunkle Wolken.
Entgegen meiner Erwartung geht es zügig voran, zum Glück. Denn während ich in der 100 Meter langen Schleusenkammer alleine hinuntergesunken war, hatte mich auf dem Smartphone eine unerfreuliche Eilmeldung erreicht: "Meteorologen warnen vor schweren Unwettern über Unterfranken." Schnell lasse ich die Staustufe bei Eltmann hinter mir, auf der rechten Seite zieht Zeil vorbei, das Wehr von Knetzgau erscheint. Dort schleuse ich das erste Mal auf eigene Faust: Hebel auf Talfahrt, den roten Knopf drücken, so sagt es die Anleitung. Schon sinke ich vier Meter in die Tiefe. Als ich am Nachmittag in Haßfurt an Land gehe, haben sich die Wolken verzogen. Allen Unwetterwarnungen zum Trotz bleibt es ruhig in dieser Nacht. Die Eile war umsonst.
Auf der Etappe nach Schweinfurt bläst der Wind von vorne. "Als möchte er mich als Bamberger davon abhalten, die Grenze nach Weinfranken endgültig zu passieren", denke ich laut und lache. Inzwischen ertappe ich mich immer häufiger dabei, wie ich Selbstgespräche führe. Oder mit einem Graureiher rede, der auf hohen Stelzen durch das seichte Wasser am Ufer watet: "Viel Erfolg bei der Jagd!" Tiere werden zu Gesprächspartnern, einseitig natürlich. Und schon bald vergesse ich die abertausenden Schläge mit dem Paddel, blende aus, dass Vorwärtskommen auch Anstrengung bedeutet. Dann vergeht die Zeit auf dem Fluss wie im Fluge - und plötzlich ist man in Schweinfurt.
Am Rande der Stadt zieht am nächsten Tag ein Industriekomplex nach dem anderen an mir vorbei. Weiter flussabwärts blicken die Kühltürme des 2015 abgeschalteten Atomkraftwerks Grafenrheinfeld auf den Main. Ein Angler sitzt am Ufer und winkt, neben ihm ein Schild mit der Aufschrift: "Vorsicht! Wassereinleitung". Hinter ihm der AKW-Meiler. Um das Wasser aus dem Fluss trinken zu können, hatte mir ein guter Freund vor der Reise eine Flasche mit Spezialfilter empfohlen. "Damit hab' ich sogar Mexiko überlebt", erzählte er mir lachend. Bislang reicht mein Frischwasservorrat, den ich täglich an den Zeltplätzen auffülle. Die Flasche bleibt der Notnagel, denn ich traue dem Fluss nicht. Angesichts des Schildes nun noch weniger.
Mainschleife: Herzstück des unterfränkischen Weinanbaus
Täglich sitze ich knapp sechs Stunden im Faltboot, lege rund 30 Kilometer zurück. Ab Volkach ist der Main wieder ein Fluss, keine lethargische Wasserstraße. Zumindest kurz erinnert er hier an seinen Oberlauf. Die Schleife, die der Main über Jahrmillionen in den Untergrund gegraben hat, ist gleich aus mehrerlei Sicht bedeutend: als Landschafts- sowie Naturschutzgebiet und als Herzstück des unterfränkischen Weinanbaus. Winzer stehen in den Hängen und bearbeiten sorgsam ihre Reben. Historische Bauten wie die Kirche Mariä Schutz thronen oben auf dem Weinbergen.
In Schwarzenau breche ich bereits in den frühen Morgenstunden auf. Ein für Mittag angekündigtes Unwetter bei Ochsenfurt soll meine Reise so kurz vor dem Ziel nicht mehr gefährden. Bis auf einen kurzen Wolkenbruch passiert nichts. Das Unwetter scheint wieder einmal an mir vorbei zu ziehen, oder ich an ihm. Das Glück, das mir vor 15 Jahren fehlte, begleitet mich diesmal.
Am Campingplatz in Ochsenfurt fragt der Wart, woher ich denn käme. Ich erzähle. "Flussabwärts geht die Reise also", gibt er sich unbeeindruckt. Vor einigen Wochen sei eine Dame vorbei gekommen, die den Main hinauf gepaddelt sei. "Sie sagte, dass sie über den Main-Donau-Kanal bis ans Schwarze Meer möchte." Wir nicken anerkennend. Tatsächlich reizt auch mich die Donau, die Flusswanderer über 2900 Kilometer durch zehn Anrainerstaaten führt.
Erst aber gilt es, diese Reise zu beenden. In Würzburg wartet mit dem zwischen den Pfeilern der Alten Mainbrücke errichteten Wehr das letzte Hindernis. Als die Festung Marienberg am Horizont erscheint, sind es nur noch wenige Kilometer bis zum Ziel. Ich schnappe mein Mobiltelefon. "Kurz hinter Ihnen kommt ein Schiff, mit dem können Sie schleusen", sagt der Würzburger Wart am anderen Ende der Leitung. Ich drehe mich um. Der Kahn ist bereits in Sichtweite. Komme ich zu spät, könne er nicht nicht sagen, wann es für mich weiter gehe, sagt der Wart. Zu überschaubar sei heute der Verkehr auf dem Fluss.
Doch die Mainbrücke ist meine Ziellinie, vorher aussteigen keine Option. Die Wettfahrt beginnt. Behäbig, aber stetig schiebt sich das Schiff an mich heran. Ich mache Platz - und habe Glück. Die Staustufe ist bereits näher als erwartet. Meine Paddelzüge werden länger und kräftiger. So folge ich dem Schiff, dessen Schraubenschlag das Wasser zum Schäumen bringt, durch das offene Obertor. Gemeinsam sinken wir hinab. Als den Pegel des Unterwassers erreicht, öffnet sich das Schleusentor. Nur wenige Schläge, dann ist der Zieldurchlauf geschafft.
Einige hundert Meter später gehe ich in Würzburg an Land. Die Reise auf dem Main, die ich vor 15 Jahren begonnen hatte, ist zu Ende.