Viertel nach Zehn, Dienstbeginn. Nein, nicht mehr so früh wie einst, als die Musiker schon um halb Acht an ihren Pulten saßen. Und aufspielten, während die Kurgäste zum ersten Trinkgang des Tages zusammenkamen, sich von den Brunnenfrauen ein Glas Heilwasser – Pandur, Luitpoldsprudel oder Rakoczy – ausschenken ließen. Und dann, nippend und schluckend, in der großen Halle wandelten, während das Kurorchester Entspannungsmusik spielte. Reinhold Roth, der Mann an der Trompete, hat das viele Jahre mitgemacht, seit 40 Jahren ist er schon dabei.
Aber jetzt wird von Sieben bis Neun erst einmal sehr bewusst eines der Heilwässer getrunken. Und das Frühkonzert gibt es um halb Elf. An diesem Vormittag mit Kusswalzer, Zigeunertanz und „Immergrünen Melodien“. Reinhold Roth, nicht nur Trompeter, sondern auch der Mann fürs Programm, hat die Reihenfolge der Stücke am Treppenaufgang zu den Umkleideräumen ans Schwarze Brett gehängt. Und in großen Kopien jedem Kollegen ins Notenfach gelegt. Erst ein Choral, wie immer vormittags. Dann Wunschprogramm.
Und während sich bald nach Zehn die ersten Reihen in der Wandelhalle füllen, wie täglich außer montags, blasen sich Reinhold Roth und Posaunist Roman Riedel im kleinen Büro-Kabuff ein paar Minuten lang die Lippen warm. Ein Stockwerk höher, am Tisch neben dem Notenmappenregal, geht Orchesterleiter Burghard Toelke rasch mit den Kollegen von Holz und Rhythmus summend und singend die Stücke durch. Wer im Kurorchester Bad Kissingen spielt, das nicht mehr Kurorchester heißt, sondern Staatsbad Philharmonie, muss vom Blatt spielen können.
„Nicht so schnell bei 18“, sagt Toelke, der Maestro und erste Geiger. „Dann wird? schnell bei 21, jammbammbamm . . .“ Ein kurzer Blick in die Noten vom Zigeunertanz: „Bleibt in einem Tempo bis zum Presto. Dann so schnell es geht und irgendwie überleben.“ Toelke lacht, die anderen lächeln. „Letzte Fermate: voll reinsteigen!“
Schon schnappen sie ihre Instrumente, gehen hinaus, den überdachten Durchgang hinüber in die Wandelhalle. Zum ersten gesellschaftlichen Ereignis des Tages. Besucher in Turnschuhen und mit Walkingstöcken sind da. Stammgäste, die mit der Premiumkarte für 99 Euro im Jahr – unter anderem – freien Eintritt zu allen Kurkonzerten haben und hier 14 Mal 75 Minuten musikalische Unterhaltung pro Woche genießen können. Und Kurgäste, die schon mal sagen, dass sie eigentlich nur wegen des Orchesters nach Bad Kissingen kommen . . .
Also dann! Roth, nicht nur Trompeter und Programmgestalter, sondern auch aufmerksamer Moderator, heißt alle mit wohlbedachten Worten willkommen: „Im Namen unseres Schöpfers hören Sie den Choral . . .“
Seit 1855 ist das hier so bei den Frühkonzerten. Seit der Würzburger Musikdirektor und Komponist Johann Valentin Hamm in Bad Kissingen das Amt des Konzertmeisters übernahm und den Morgenchoral zum Auftakt einführte. Die Kurmusik gab hier schon seit 1836, als 15 böhmische Musiker eine Saison lang die Kurgäste unterhielten. Und so viel Zuspruch bekamen, dass hernach für die Sommermonate regelmäßig Musiker des Würzburger Theaters, der Meininger Hofkapelle oder der Münchner Philharmoniker und Wiener Symphoniker verpflichtet wurden. Die Kurmusik sollte eine therapeutische Wirkung auf die Psyche der Kranken haben.
Und gut tun sollen die „erhebenden Melodien“ noch immer, auch wenn sich viel getan hat seit Hamms Zeiten. Längst sind die Musiker fest angestellt und konzertieren das ganze Jahr über. Dienstags bis sonntags, vormittags und nachmittags und zwei Mal in der Woche auch abends. „Kultmusik“ sagt Orchesterleiter Burghard Toelke zu dem, was er und sein 13-köpfiges Profi-Ensemble hier bieten.
Zu neunt sind sie an diesem Mittwochvormittag auf der Bühne. Der zweite Geiger fehlt, Toelke spielt Doppelgriffe. Improvisieren gehört hier zum Geschäft – „wir müssen flexibel sein.“ Gerade hat das Ensemble einen Generationswechsel hinter sich. Mit Flötistin Lisa Oefler, Shoko Tanaka am Kontrabass, Klarinettistin Parisa Saeednezhad, Pianistin und Komponistin Setareh Shafii Tabatabai und Chan Park, der Drum-Set, Pauken, Xylophon, Glockenspiel und Marimbaphon fast zeitgleich bedient, sind ganz junge Musiker dabei.
Und alle spielen nicht nur ein Instrument oder zwei oder drei. Sondern haben dazu Sonderaufgaben wie die Betreuung des gewaltigen Notenarchivs. Das Repertoire der Staatsbad Philharmonie umfasst etwa 3000 Stücke aus allen Stilepochen der Musikgeschichte. „Historisch wertvolles Material, vieles wird ja gar nicht mehr gedruckt“, sagt Toelke über die weiteren 40 000 bis 50 000 Werke, die das Ensemble im Archiv hat. Darunter „echte Raritäten“, vieles noch handgeschrieben.
Den Zigeunertanz mit dem rasanten Schluss haben alle gut überlebt, schon gibt es die „Apfelblüte“ von Ludwig Siede. „Ein Charakterstück, sehr selten“, sagt Posaunist Roman Riedel, der als Orchestermanager Toelkes linke Hand ist und „Mädchen für alles“. Wenn am Harmonium die Mechanik klemmt, kommt Riedel mit dem Spezialkleber.
Was unverändert ist seit 1911, als die 90 Meter lange, europaweit größte Wandelhalle mit ihrer Basilika-gleichen Konstruktion aus Stahlbeton eröffnet wurde: dass das Orchester in einer drehbaren Konzertmuschel spielt. Eine ziemlich clevere Angelegenheit: Hat's draußen über 23 Grad, wird nach außen gespielt, in den Kurgarten hinein – ohne Pulte, Flügel und Schlagzeug verrücken zu müssen. Innen gibt es jetzt viel Applaus und ein paar „Bravos“.
Noch rasch und temperamentvoll den Tokajer Wein, dann erheben sich zum letzten Stück fast alle Zuhörer ehrfurchtsvoll: Bayerischen Defiliermarsch! Mit Schmackes, als würden nicht neun, sondern 90 Instrumente erklingen.
Wer mag, ist um halb Vier wieder dabei, dann auch mit Heilwasser aus den Brunnen. Vorne an der halbrunden Bühne nimmt Reinhold Roth noch Wünsche entgegen für die nächste Tage. „An der schönen blauen Donau? Wunderbar! Das können wir am Dienstag machen.“