Ein Gaudiwurm, der in umgekehrter Reihenfolge Aufstellung nimmt. Der nur 1,50 Meter breit sein darf. Der 2002 mit ein paar Gruppen begann und heute über 800 Teilnehmer und 10 000 Zuschauer zählt. Den die Veranstalter selbstbewusst Deutschlands größten - ach was! - der Welt größten Trottoir-Faschingszug nennen. An diesem Samstag startet er um 13.30 Uhr wieder, zum 18. Mal. Seit zehn Jahren mit der Kamera immer dabei ist der Hobbyfotograf Peter Lang. Gerade ist im Gemündener Kulturhaus eine Auswahl seiner geschätzt mehr als 3000 Fotos vom "Trottwar-Züchle" in einer Ausstellung zu sehen.
Die pure Lebensfreude hat der 74-Jährige in den Gesichtern der fröhlich feiernden Menschen ausgemacht. Das fasziniert ihn, die besten Momente versucht er festzuhalten. "Vor allem reizen mich Gesichter von Personen, die nicht bewusst für die Kamera posieren, deren Gefühle lebensbejahend und unverfälscht sichtbar werden", sagt er zu seiner Ausstellung.
Seit 2009 fotografiert der ehemalige Busfahrer den Faschingszug in seiner Heimatstadt. Die Geschichte des Züchle reicht weiter zurück. Sie beginnt mit "Opa Gert" 2001. Gert Pröschl war einer der aktiven Fasenachter der legendären IGF, der Interessengemeinschaft Gemündener Fasching. Als die sich 1993 nach 15 Jahren auflöste und keine Bunten Abende mit Sketchen, Büttenreden und Showtänzen mehr veranstaltete, verödete die bis dahin groß gefeierte fünfte Jahreszeit in der Dreiflüssestadt. Von Kappenabenden und Pfarreifasching mal abgesehen.
Als Opa Gerts 60. Geburtstag am 7. September 2001 näher rückte, hatten die Freunde von der alten IGF und Nachbarn die Idee, ihm zu Ehren in der Siedlung einen Faschingszug zu veranstalten. Dann zog die bunt kostümierte Truppe lautstark heran, erinnert sich Gert Pröschl, und da war seine Frau "noch mehr überrascht" als er selbst. "Sie hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: ,Wo soll ich die alle hinsetzen?'"
Das Geburtstagsgeschenk gefiel nicht nur dem Jubilar, sondern allen Teilnehmern so gut, dass für das folgende Jahr eine Wiederholung verabredet wurde, dann aber nicht im September, sondern passender und regulär an Fasching. Daraus entstand der Trottoir-Faschingszug, der den karnevalistischen Notstand in Gemünden beendete. Inzwischen hat "es Zuechle" eine eigene Homepage, auf der diese Geschichte nachzulesen ist. Der Weg führt seither von Opa Gerts Siedlung in die anderthalb Kilometer entfernte Altstadt, davon 700 Meter an der viel befahrenen Bundesstraße 26 entlang. Die Fahrbahn zu benutzen kommt wegen der Sicherheitsauflagen nicht infrage. Somit war klar, dass für den Umzug nur der Gehweg benutzt werden darf, und auch der wird durch die Feuerwehr gesichert.
Der Gehweg gibt vor, dass als Fahrzeuge höchstens Leiter- und Kinderwagen von 1,50 Meter Breite mitgeführt werden dürfen. Ihre Aufbauten allerdings stehen, was den Einfallsreichtum und den Konstruktionsaufwand und manchmal auch die Höhe anbelangt, den großen Wagen in nichts nach. "Aus dem Dornröschenschlaf ist erwacht die Gemünnemer Fasenacht", so lautete 2002 der Leitspruch des ersten Trottoir-Züchles. 18 Fußgruppen zählte er. Heute sind es etwa 50 mit um die 800 Teilnehmer aus der ganzen Umgebung, sogar Exil-Gemündener aus Frankfurt sind dabei, berichtet Jörg Fella. Der 49-Jährige fungiert heuer zum achten Mal als Zugmarschall, wie vor ihm sein Vater Erhard Fella. Er organisiert den Umzug zusammen mit Rainer Pröschl, dem Sohn von Opa Gert, und vielen weiteren Helfern.
Dabei ist die Züchle-Initiative kein Verein, sondern steht in der Verantwortung von Fella und Pröschl - "weil wir faschingsverrückt sind", erklärt der Zugmarschall. Und weil sie faschingsverrückt sind, legen die beiden in der fünften Jahreszeit ihre Namen ab und heißen bis Aschermittwoch Ögger I. und Gonzo I. Den Arbeitsaufwand für die Vorbereitung des Umzugs, der immer am Samstag des Faschingswochenendes stattfindet, schätzen sie für sich und ihre Helfer auf zusammengenommen eine Woche. "Ist der Zirkus noch so klein, einer muss der August sein", kommentiert Ögger I. alias Jörg Fella achselzuckend. Vielleicht gibt er in drei Jahren, wenn er die närrische Zahl elf erreicht hat, das Amt des Zugmarschalls ab, vielleicht an seinen Sohn? Die Aufgaben eines Zugmarschalls sind überschaubar: "Die Horde führen, zusammenhalten, das Tempo vorgeben und des Züchle lautstark ankündigen."
Das ursprüngliche "geniale Konzept" wird beibehalten: Dadurch, dass die Fahrzeuge auf Handwagen beschränkt sind, droht in Gemünden keine Gefahr durch riesige Traktoren und Lastwagen. Alkoholexzesse von Gruppen, die sich in vier Meter Höhe selbst mit überlauten Musikboxen feiern, sind ausgeschlossen. Die Süßigkeiten werden den kleinen Zuschauern in die Hand gegeben und nicht weitflächig ausgeworfen, so dass nichts in der Gosse landet. Die Zusammenarbeit mit Rotem Kreuz, Feuerwehr, Polizei, Stadtverwaltung und Jugendamt bezeichnet Fella als "ein sehr gutes Miteinander".
Brauch ist auch, dass jedes teilnehmende Kind - heuer sind es 154 - am Marktplatz in Verbindung mit der "Ratsschenke" einen Bratwurstweck und eine Limo bekommt. Dazu erhält jede Gruppe Kamellen und Getränke für den Eigenbedarf. Und das, obwohl von den Züchle-Teilnehmern keine Gebühr verlangt wird, nur um eine Spende von einem Euro pro (Papp-)Nase wird gebeten. Außerdem können die Zuschauer am Samstag spenden, erklärt der Zugmarschall und weist auf eine weitere Besonderheit hin: Seit Anbeginn versorgt Wolfgang Seubert, ein Anwohner an der Zugstrecke, alle (!) vorbeiziehenden Teilnehmer "mit leckeren Fettbrötern".
Bleibt noch zu erklären, was es mit der eingangs beschriebenen umgekehrten Reihenfolge auf sich hat: Weil normalerweise bei einem Faschingszug die eine Gruppe nicht die Kostüme und Motive der anderen sehen kann, sind Ögger I. und Gonzo I. darauf verfallen, ihren Zug so aufzustellen, dass die letzte Gruppe an der Spitze steht und die erste am Ende. Mit dieser ersten Gruppe und allen weiteren im Gefolge marschiert dann der Zugmarschall in einer scharfen Kehre an den anderen vorbei, bis sich schließlich die richtige Reihenfolge gebildet hat. So sehen sich alle Teilnehmer und rufen sich zu, womit heute auch einmal ein Bericht schließen darf: Helau!