Wenn ein Unbekannter ihn fragen würde, was er heute macht . . . Sebastian Hilpert würde erst einmal berichten, was er lange Zeit gemacht hat. Wie falsch es sich anfühlte. Und er würde erzählen, welchen Weg es brauchte, um der zu sein, der er heute ist. Dass er inzwischen unter der sengenden Sonne Afrikas gearbeitet hat, verwaiste Breitmaulnashörner mit der Flasche aufzog, Leoparden unter dem Kinn kraulte, Wasserlöcher in felsigen Grund hackte, Zäune von Wildgehegen reparierte und einen Angriff von aufgebrachten Afrikanischen Wildhunden überlebte . . .
Bis vor sechs Jahren für Sebastian Hilpert nicht vorstellbar, nicht denkbar. Nicht mal im Traum.
Denn überhaupt. Wünsche zu haben, Träume zu verwirklichen – „nur etwas für andere, davon war ich wirklich überzeugt“. Sebastian Hilpert vor sechs Jahren: Soldat in Veitshöchheim, Feldwebel in vierter Generation. Großvater und Vater waren schon bei der Bundeswehr gewesen. Mit 19 Jahren, „vom Leben keine Ahnung und ohne Plan“, hatte sich der gebürtige Würzburger mit auf Sicherheit bedachtem Elternhaus eben auch beim Bund verpflichtet. Beim Duttenhofer in Würzburg, dem großen Foto- und Elektronikfachgeschäft, hatte er zuvor schon eine Ausbildung gemacht, bei der Bundeswehr wird er IT-Systemadministrator, IT-Netzwerkadministrator, IT-Sicherheitsbeauftragter und macht 2013 seinen Abschluss als Wirtschaftsinformatiker.
Feste Beziehung, sicherer Job, beruflich offene Türen. Nach zwölf Jahren endgültig Berufssoldat zu werden oder bestens ausgebildet in den öffentlichen Dienst zu wechseln und auf die Rente zu warten oder viel Geld in der freien Wirtschaft zu verdienen – der junge Würzburger, keine 30 damals, konnte es sich aussuchen.
„Aber ich habe mich gefühlt wie ein Pinguin in der Wüste Gobi oder ein Schneeleopard im Toten Meer“, sagt Sebastian Hilpert heute. „Fast zehn Jahre habe ich etwas gemacht, das mir keinen Spaß gemacht hat.“ Er biss sich durch, verbot sich das Träumen, „funktionierte“ nur noch. Kraftlos, resigniert, oft aggressiv. Irgendwann attestierte ihm die Truppenärztin, dass er an Depression erkrankt war. Damals, im kalten langen Winter vor sechs Jahren, hat er diesen Moment, wo er doch träumt. Beim lustlosen Zappen durch die Programme bleibt er bei einem Beitrag über Volontäre in Namibia hängen, über Freiwilligenarbeit in einer Auffangstation. Mit Wildtieren arbeiten, etwas Sinnvolles tun. Im südlichen Afrika . . . Etwas, was er sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Ansatz vorstellen kann.
Es sei seiner damaligen Partnerin zu verdanken, dass er knapp zwei Jahre später tatsächlich – mit allem Urlaub und Dutzenden Überstunden als Ausbilder für Afghanistan-Einsätze auf dem Truppenübungsplatz – für zwei Monate nach Namibia fliegt, um sich in einer Auffangstation in der Kalahari um verletzte und verwaiste Wildtiere zu kümmern und gleich mal von einem Erdmännchen in die Achillessehne beißen zu lassen.
Der Würzburger ist mit Hunden aufgewachsen, hat Katzen lieben gelernt – und merkt in Namibia schnell, dass er mit Tieren gut klarkommt, einen Draht vor allem zu Raubkatzen hat. Die Leiterin der Station vertraut dem jungen deutschen Soldaten bald zwei gerade geborene Karakal-Babys an. Geparden putzen mit ihrer rauen Zunge sein Gesicht. Eine Leopardin, vor der selbst die Buschmänner und Pfleger Respekt haben, lässt sich von ihm durchs Käfiggitter unter dem Kinn kraulen. Hilpert zählt für einen Löffelhund mit eingegipstem Bein täglich Mehlwürmer ab, zieht einen gefräßigen Kudu-Bullen mit der Flasche auf, befreit einen Wurf Wildkätzchen von Mangofliegen-Larven. Und ins Gehege mit den aggressiven Wildhunden geht er auch bald alleine . . .
Nach zwei Monaten hat der Würzburger Kratzer, Blutergüsse und Narben, ein paar Kilo weniger, ausgeblichene Haare, ein „Wildlife-Caretaker“-Zertifikat – und ein gutes Gefühl. Zum ersten Mal seit Jahren. Er weiß noch nicht, dass dies erst der Anfang ist. Aber er merkt, dass er sich verändert hat. Zurück in Würzburg ist vieles, was ihm vorher als Problem schien, unbedeutend oder klein geworden. Statt alles negativ zu sehen, beginnt er positiv zu denken. Er meldet ein Fotografie-Nebengewerbe an und lässt sich nach und nach seine Lieblingstiere auf Schulter und Arme tätowieren.
Nashorn, Leopard und Pangolin, das extrem seltene, scheue Schuppentier. Diese drei mag Sebastian Hilpert besonders. Diese drei sind heute auch in seinemLogo „Animalperson“, dem Label, unter dem er seine Wildtierfotografien ver- und neue Projekte betreibt. Denn nach diesem einen, kurzen Aufenthalt in der namibischen Savanne war für den Soldaten klar, dass sich viel verändern wird.
Er entscheidet sich gegen einen sofortigen sicheren Job. Reist wieder und wieder nach Namibia, Südafrika, Botswana. Als Tourist, als Guide, als Freiwilliger auf einer geheimen Nashorn-Auffangstation. Als Fotograf, schließlich als Wildhüter in einem privaten Wildtierschutzgebiet. Immer auf eigene Kosten. Er lernt, wie man einem Löwen in freier Wildbahn begegnet. „Nicht wegrennen“, sagt er lächelnd. „Only food runs. Nur Beute rennt.“ Er saugt alles auf, was ihn die einheimischen Wildhüter lehren, weiß wie er sich im Busch im Angesicht von Schlangen, Nilpferden, Löwen verhalten muss.
Die Begegnung mit den extrem bedrohten Spitz- und Breitmaulnashörnern werden für Hilpert prägend. „In Afrika herrscht Krieg“, sagt der ehemalige Soldat. „Rhino-War.“ Ein ungleicher Kampf. Auf der einen Seite das organisierte internationale Verbrechen, das mit dem in Ostasien extrem begehrten Horn – wertvoller noch als Gold, Kokain oder Elfenbein – ein blutiges Vermögen verdient. Auf der anderen Seite die wehrlosen Tiere, die elendig verenden. „Und dazwischen eine dünne Linie unterbezahlter staatlicher Wildhüter und Soldaten, nichtstaatliche Antiwilderer-Organisationen und Besitzer privater Wildtierschutzgebiete mit ihren Angestellten“, sagt Hilpert. Erschwert würde der Kampf gegen die Wilderer durch korrupte Regierungen und Behörden, besonders in Südafrika.
In Afrika habe er lernen müssen, dass auch dort in allen Bereichen kein bloßes Schwarz-Weiß-Denken angebracht ist. Nur-Gut und Nur-Böse im Konflikt zwischen Wildtier und Mensch gibt es nicht, sagt der 33-Jährige. Auch nicht bei der Trophäenjagd, die ihn bei den ersten Aufenthalten so aufbrachte und heute noch wütend macht. Durch viele Begegnungen und Erfahrungen weiß er, dass sie in manchen Reservaten ökologisch und auch wirtschaftlich sinnvoll sein kann. „Wenn ein Tourist 8000 Dollar für eine Antilope zahlt, kann man dafür Hunderte andere Tiere impfen und ihnen helfen, zu überleben.“
„Überleben“ – genau darum geht es, immer. Er selbst hat es auch geschafft. Wenn ein Unbekannter ihn heute also fragt, was er macht . . . Dann kann Sebastian Hilpert sagen, dass er Wildtierfotograf ist und Buchautor. Durch Zufall war eine Lektorin des Lübbe-Verlags auf seine Webseiteund den Blog gestoßen. Sie wollte gerne einen Bildband mit ihm machen. „Ich wollte aber alles erzählen“, sagt Hilpert. Sein lebloses Soldatenleben, seine Depression. Erlebnisse und Abenteuer als Freiwilliger, Erfahrungen als Wildhüter auf Patrouillen, Aufklärung über den Rhino-War. 400 Seiten mit 32 Seiten ausgewählter Bilder sind es schließlich geworden. Die Geschichte eines Neuanfangs.
Wie es weitergeht? „Ich habe zu viel Afrika erlebt, um mich wieder in ein deutsches Büro zu setzen“, sagt Hilpert. Zu groß ist auch die Angst, wieder in die Depression zu rutschen. Die nächsten Monate hat er sich offengehalten . . . Und dann? Er müsste mal wieder nach Afrika. Den seltenen Honigdachs hatte er noch nicht vor der Linse. Er will unbedingt wieder ein Pangolin fotografieren. Und eine Tüpfelhyäne hat er noch nicht bei Tageslicht gesehen. Er will mehr zum Schutz der Nashörner beitragen. „Aber dafür brauche ich Unterstützung in Form von seriösen Organisationen oder Sponsoren.“ Träume zu haben? „Das fällt mir heute noch schwer.“
Das Buch von Sebastian Hilpert: „Überleben. Als Wildhüter in Afrika“ ist erschienen im Lübbe Verlag Köln, 400 Seiten, 18 Euro