Zwanzig Minuten. Mehr Zeit hat Hebamme Stephanie Ott nicht. Länger darf ein Wochenbettbesuch laut Richtlinien der Krankenkassen nicht dauern. Arbeiten mit einer Stoppuhr im Kopf. Anzumerken ist der 25-Jährigen von dem Zeitdruck aber nichts. Kräftig reibt sie ihre Hände aneinander, testet immer wieder, ob sie warm genug sind. Vorsichtig greift sie nach Annikas zierlichem Körper. Die Kleine ist erst wenige Wochen alt und scheint noch etwas skeptisch auf das zu warten, was nun auf sie zukommt.
Wiegen ist Routine bei den Hausbesuchen. 200 Gramm mehr als beim letzten Mal bringt das Baby auf die Waage. Die Erleichterung ist der Hebamme anzusehen, denn Annika hat nach ihrer Geburt nicht genug zunehmen wollen. Jetzt ist alles in Ordnung.
Immer ein offenes Ohr
Tick-tack, tick-tack, die Zeit rast. Doch die Arbeit der Geburtshelferin ist noch nicht erledigt. Stephanie Ott wendet sich der Mutter zu. Wie kommt sie zurecht? Sind alle Wunden verheilt? Hat sich Annikas große Schwester an die Kleine gewöhnt? Annikas Mutter erzählt von kleinen Problemchen und großen Sorgen. Wie sehr ihr diese Minuten helfen, das Gespräch sie beruhigt, ist in ihrem Gesicht zu lesen. Nach einer Dreiviertelstunde sind alle Fragen geklärt, die Hebamme bricht auf. Sie drückt die Mutter, streichelt im Vorbeigehen noch einmal Annika, die zufrieden in ihrem Bettchen liegt, und schlüpft in ihre Schuhe.
24 Stunden in Bereitschaft
45 Minuten hat der Besuch gedauert. 15 Minuten zu lang. Denn die Krankenkassen veranschlagen für einen Nachsorgetermin 20 Minuten plus zehn Minuten Dokumentationszeit. Für mehr wird die Geburtshelferin nicht bezahlt. 8,50 Euro netto verdient eine Hebamme laut Angaben des Deutschen Hebammenverbands durchschnittlich pro Stunde. Viel ist es nicht, aber am Ende des Monats ist Stephanie Ott zufrieden. „Ich arbeite auch viel“, stellt sie klar. 50 bis 70 Stunden in der Woche seien keine Ausnahme, Bereitschaft habe sie 24 Stunden am Stück, in der Regel arbeite sie drei Wochenenden im Monat. Die Wochen vor und nach einem Geburtstermin hat sie Bereitschaft, sieben Wochen insgesamt. Wenn die Freiberuflerin eine Geburt betreut, gibt es keinen Schichtwechsel – egal wie lange sie dauert. Wenn danach ein Nachsorgetermin vereinbart ist, übernimmt sie ihn. „Ich arbeite viel, gebe viel, nehme auch viel mit nach Hause und am Ende steht es in keinem Verhältnis zur Bezahlung“, sagt sie und wirft ihr kleines, rotes Lederköfferchen in den Kofferraum ihres Wagens, ihre „Abstellkammer“ wie sie ihn augenzwinkernd nennt. Darin verstaut sie alles, was sie für ihre Arbeit braucht. Ein Notfall-Set, das Blutdruckmessgerät, das Stethoskop, Spritzen, alles ordentlich sortiert. In einer Ecke steht ein Paar Gummistiefel – man weiß ja nie, was kommt.
Geburt im Kreisverkehr
Skurrile Situationen erlebt die Hebamme immer wieder. Sie braucht gar nicht lange nachzudenken, da fällt ihr eine Geschichte ein. Die Frau, die ihr Kind beinahe auf dem Kreisverkehr Berliner Ring in Würzburg zur Welt bringen musste, weil sie es nicht mehr rechtzeitig ins Geburtshaus zur Entbindung schaffte. Es sei alles ganz schnell gegangen, schon im Auto sei die Fruchtblase geplatzt, erzählt die Hebamme. Dann grinst sie breit. Der Vater des Kindes sei damals trotzdem ganz vorbildlich an einer roten Ampel stehen geblieben. Gerade so habe die Frau es noch in den Entbindungsraum geschafft, dann war das Baby auch schon da. „Das war die adrenalingeladenste Geburt, bei der ich jemals dabei war“, sagt die Hebamme.
Umfangreiche Ausbildung
Stephanie Ott tuckert über Landstraßen zu ihrem nächsten Termin. Rund 50 Kilometer im Umkreis von Würzburg besucht sie werdende Mütter oder Babys und betreut Hausgeburten. Wie viele Kilometer sie in der Woche fährt? „700“, sagt die 25-Jährige, die seit drei Jahren im Würzburger Geburtshaus arbeitet. Sie ist selbstständig, hat sich jedoch mit anderen Hebammen zusammengetan.
Ihre Ausbildung hat die junge Frau in der Frauenklinik in Bad Cannstatt gemacht. Drei Jahre dauerte diese Zeit, in der sie auf der Schwangeren- ebenso wie auf der Entbindungsstation war, in der sie die Schulbank drückte und nicht nur einiges über die Geburt, den weiblichen Körper und Neugeborene lernte, sondern auch medizinisches Grundwissen: Blut abnehmen, Blutdruck messen, Infusionen setzen – all das gehört dazu. „In der Hebammenausbildung lernen wir so viel wie im Grundstudium Medizin“, sagt sie im Scherz. Doch ganz unrecht hat sie nicht. An einer Hebammenschule stehen Anatomie und Physiologie ebenso auf dem Stundenplan wie Arzneimittellehre und Geburtshilfe.
Geburten im Akkord
Schon während ihrer Ausbildung in der Klinik wurde Stephanie Ott klar: Das war nicht die Art von Arbeit, die sie sich vorstellte. Geburten im Akkord, Zeitdruck und Kaiserschnitte in Situationen, in denen sie es nicht für nötig hält. An manchen Tagen muss eine Hebamme mehrere Geburten parallel betreuen. Die 25-Jährige will ihren Kolleginnen keine Vorwürfe machen. Sie leisteten gute Arbeit, das derzeitige System fordere jedoch seinen Tribut. Geburten müssten immer schneller gehen, denn der Kreißsaal würde wieder gebraucht, kritisiert sie.
Verschärft wird die Situation durch das Schließen vieler Geburtsstationen vor allem in kleineren Kliniken. Ein Blick über die Würzburger und Schweinfurter Stadtgrenzen zeigt, wie dramatisch die Lage ist. Im Landkreis Bad Kissingen gibt es keine Geburtsstation mehr. Auch im Landkreis Main-Spessart wurden in den vergangenen Jahren die Geburtsstationen der Kliniken in Marktheidenfeld und Lohr sowie zuletzt in Karlstadt geschlossen. Im Landkreis Würzburg hat die Entbindungsstation in der Ochsenfurter Klinik ebenfalls vor rund zehn Jahren dichtgemacht. Und in Hofheim (Lkr. Haßberge) wurde jüngst vermehrt über die Schließung der Entbindungsstation diskutiert. Insgesamt gibt es in Unterfranken nach Angaben des bayerischen Gesundheitsministeriums derzeit noch zehn Krankenhäuser, die geburtshilfliche Leistungen anbieten. „In Bayern haben in den letzten zehn Jahren 32 Geburtshilfestationen zugemacht, weil sie chronisch unterfinanziert sind“, kritisiert die Würzburger Grünen-Politikerin Kerstin Celina. Die verbliebenen Kliniken müssen die entstandenen Lücken ausgleichen. Für sie bedeutet das noch mehr Stress.
Fehlende Hebammen: Verzweiflung groß
Auch für die freiberuflichen Hebammen sind die Folgen dieser Entwicklung spürbar. Laut Hebammengesetz kann eine Hebamme eine normal verlaufende Geburt alleine leiten. Ein Arzt dagegen dürfe eine Frau nur in Notfällen ohne eine Hebamme entbinden. Die Zentralisierung der Geburtshilfe verhindere die außerklinische Geburtshilfe, sagt die Vorsitzende des bayerischen Hebammen Landesverbandes Astrid Giesen. Hebammen betreuen Frauen seltener bei Hausgeburten. Der Grund: Bei Komplikationen sei die Entfernung in die nächste Klinik schlichtweg zu weit, das Risiko somit zu hoch.
„Wir haben eine Hebammenunterversorgung“, sagt Stephanie Ott, die schon jetzt bis September vollkommen ausgebucht ist. Es ist eine perfide Situation: Frauen müssen sich in den ersten Wochen ihrer Schwangerschaft auf die Suche nach einer Hebamme zur Vor- und Nachsorge machen – obgleich es immer wieder vorkommt, dass Frauen in den ersten Wochen einer Schwangerschaft ihr Kind verlieren. In den entsprechenden Mütter-Foren im Internet ist die Verzweiflung über die erfolglose Suche groß.
„Ausgebucht“, völlig überlastet“, „nimmt keine mehr auf“ – der Tenor der Beiträge ist ebenso alarmierend wie resigniert. Noch dramatischer ist die Situation bei der Suche nach freiberuflichen Hebammen, die auch Geburtshilfe etwa bei Hausgeburten leisten. Deutschlandweit gab es 2016 nach Angaben des GKV-Spitzenverbands rund 18 000 freiberufliche Hebammen, weniger als ein Drittel von ihnen, nämlich nur rund 5200, sind auch in der Geburtshilfe tätig.
„Hebamme sein ist mehr als nur schöne Schwangerenbäuche und süße Babys“
Stephanie Ott ist eine von ihnen und sie verwundert diese Entwicklung nicht. Zu viel Bürokratie, zu viele falsche Erwartungen, zu viele Unwägbarkeiten. Auch wenn sie mindestens einen Bürotag in der Woche einlegt, genügt die Zeit oft trotzdem nicht. Dann verbringt die 25-Jährige ihren Feierabend am Schreibtisch.
Fragt man sie, warum sie Hebamme geworden ist, erzählt sie von Frauen, die sie unterstützen kann, von einer faszinierenden Energie, von einer einzigartigen Kraft, die Frauen während einer Geburt freisetzen. Aber Zeit, ein verklärtes Bild entstehen zu lassen, lässt sie nicht. „Hebamme sein ist mehr als nur schöne Schwangerenbäuche und süße Babys“, sagt sie. „Ich muss immer im Hinterkopf behalten, dass ich mich absichern muss. Alles muss genau dokumentiert werden.“ Nicht nur die Untersuchungen, sondern auch die Geburt selbst. Daher sind bei den Geburten im Würzburger Geburtshaus immer zwei Hebammen im Einsatz, von denen eine vor allem protokolliert. Minutengenau.
Vertrautheit zwischen den Frauen
20.57 Uhr Wehen seit 17 Uhr, 21.30 Uhr kommt ins Geburtshaus, 1.19 Uhr Wehen alle ein bis zwei Minuten, 1.56 Uhr trinkt Wasser, 2.03 Uhr Herztöne gut – so lief sie ab, die Geburt des kleinen Jonathan. Zwei Monate ist das her, an diesem Tag sind seine Eltern Veronika und Johannes zur Nachbesprechung gekommen. Auch das gehört zu den Aufgaben der Hebamme. Sie verliest das Protokoll. Vieles hat Veronika schon vergessen. Sie lacht, wenn sie es jetzt hört. Zwölf Stunden hat die Geburt ihres ersten Kindes gedauert. „Da hast du ganz schön was geschafft“, sagt Steffi zum Schluss und nickt anerkennend.
Die Vertrautheit zwischen den beiden Frauen ist spürbar. Kein Wunder, haben sie doch einen so intimen Moment miteinander geteilt. Doch auch wenn es für die Mutter ein einzigartiges Erlebnis ist, für die Hebamme ist es Beruf. Nicht immer ist es einfach, eine Grenze zu ziehen. Immer wieder sehen die Frauen ihre Hebamme als Freundin. Eine Aufgabe, der Stephanie Ott weder gerecht werden kann noch will.
Es gibt auch schwierige Fälle
Und da gibt es noch das andere Extrem: Frauen, die mehr und vor allem vieles besser wissen als die Expertin. Auch das eine Situation, in der es nicht immer leicht, aber dafür umso wichtiger ist, professionell zu bleiben. Die 25-Jährige erinnert sich an einen Fall. Die Mutter wollte damals unbedingt ihr Neugeborenes stillen, doch die Versorgung über die Muttermilch reichte nicht aus. Die Hebamme empfahl ihr zuzufüttern, doch die junge Mutter weigerte sich.
Eine schwierige Situation. Am Ende übernahm eine andere Hebamme die Betreuung von Mutter und Kind. Zuvor bestätigte die Frau jedoch, dass sie trotz der ausdrücklichen Empfehlung der Hebamme nicht zufüttern möchte. Wieder ein Dokument für Akten. Wieder eine Absicherung. Noch mehr Bürokratie. Aber auch wenn all das Protokollieren, Dokumentieren und Absichern nervt, lässt Stephanie Ott keinen Zweifel daran, wie wichtig der Papierkram ist. „Die Sorge, verklagt zu werden, schwebt wie ein Damoklesschwert immer über dir.“ Ott wurde noch nie zur Rechenschaft gezogen, aber die Angst davor ist da. „Rückwirkend können die Hebammen bis zu 30 Jahren verklagt werden.“ Dabei seien es gar nicht die Eltern, sondern meist die Krankenkassen, die auf diese Weise versuchen, mögliche Behandlungskosten zurückzubekommen.
Der einzige Weg, sich abzusichern, sind Haftpflichtversicherungen. Versicherungen, deren Beiträge seit Jahren steigen. Im Jahr 1981 lag die Haftpflichtprämie für die Geburtshilfe laut dem Deutschen Hebammenverband bei umgerechnet rund 30 Euro, heute beträgt sie mehr als 6800 Euro. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) betont, dass es heute nicht mehr Geburtsschadensfälle gebe als früher. Stattdessen seien die Behandlungskosten gestiegen.
Arbeiten nur für die Versicherung?
Zehn Geburten muss Stephanie Ott jedes Jahr begleiten, um diese Summe abzudecken. Erst danach verdient sie etwas. „Als selbstständige Hebamme kann man, wenn man alleine arbeitet und nicht wie ich im Team, im Jahr etwa zwölf bis 15 Geburten übernehmen.“ Arbeiten nur für die Versicherung? Kein vielversprechendes Zukunftsszenario.
Im Ernstfall ist die Hebamme für „Schäden“ von bis zu sechs Millionen Euro versichert. Für alles, was darüber hinausgeht, kann sie privat haftbar gemacht werden. Sechs Millionen Euro scheint eine Menge, doch blickt man auf die Kosten für medizinische Geräte und spezifische Behandlungen, die im schlimmsten Falle notwendig würden, ist diese Summe schnell verbraucht.
In der Politik habe sich schon einiges bewegt, doch noch immer sei die Absicherung der Hebammen nicht ausreichend, kritisiert Stephanie Ott. In einigen europäischen Ländern gebe es einen Haftpflichtfonds. Im Schadensfall werde alles, was über die reguläre Haftpflichtversicherung hinausgeht, nicht mehr privat von der Hebamme beglichen, sondern durch diesen Fonds abgedeckt. „Eine solche staatliche Unterstützung wäre auch für Deutschland gut.“ Noch ist so etwas jedoch sehr leise Zukunftsmusik.
Von einer Einigung weit entfernt
Anders als der Sicherstellungszuschlag, der vor einigen Jahren eingeführt wurde. Betreut eine Hebamme mindestens eine Geburt im Quartal, bekommt sie einen Teil der Haftpflichtgebühren vom GKV-Spitzenverband erstattet. Allerdings: Auch dies sei wieder mit verschiedenen Auflagen und Einschränkungen verbunden, etwa wenn der errechnete Geburtstermin überschritten wird, kritisiert Giesen vom bayerischen Hebammenverband. Der Verband hat Klage gegen die GKV, genauer gesagt gegen die in einem Schiedsspruch zusammengefassten Einschränkungen eingereicht. Seit 2015 läuft das Verfahren. Von einer Einigung sind beide Parteien noch weit entfernt.
Der Feierabend ist noch weit entfernt
Trotzdem ist der Sicherstellungszuschlag für Stepanie Ott ein Schritt in die richtige Richtung. „Das macht es schon einmal leichter, aber die richtige Lösung ist das noch nicht“, sagt die Würzburger Hebamme und bricht zu ihrem nächsten Termin auf. Das Mittagessen fällt heute aus. Ein bisschen selbst gemachtes Müsli, das ihr eine der Frauen, die sie betreut, vorbeigebracht hat, muss reichen. Kurz muss sie überlegen, wo sie ihren Wagen diesmal geparkt hat. Wieder ins Auto. Wieder über die Landstraßen. Wieder durch die Dörfer.
Julika erwartet in der nächsten Woche ihr erstes Kind. Mit kugelrundem Bauch öffnet sie die Tür. Routiniert schlüpft Steffi aus ihren Schuhen. Wie oft sie am Tag, die Schuhe an- und auszieht, weiß sie nicht. Aber sie hat sich schon vor einiger Zeit angewöhnt, Schuhe zu tragen, die sie nicht binden muss.
Auf dem Sofa im Wohnzimmer untersucht sie Julika. Wie liegt das Kind? Ist genug Fruchtwasser da? Wie ist der Herzschlag? Mit einem Stethoskop aus Holz hört sie den prallen Bauch der Mutter ab. Die Hebamme strahlt eine ansteckende Ruhe aus. „Voll gut“, sagt sie immer wieder und lächelt. Stephanie misst Julikas Blutdruck und nimmt Blut ab. Auch das gehört zu ihrem Berufsalltag. Alles geschieht unauffällig. Alles ganz nach dem Zeitplan. Dieses Mal zumindest.
Wieder schlüpft Steffi in ihre Stiefel – nicht das letzte Mal an diesem Tag. Ein Nachsorgetermin steht noch im Kalender. Dann muss noch dokumentiert werden. Feierabend hat die Hebamme noch lange nicht.