Wenn an diesem Samstag am frühen Nachmittag die über 500 Kreuzberg-Pilger von ihrer fünftägigen Wallfahrt zurückkommen, werden sie traditionsgemäß von Freunden und Angehörigen in der Semmelstraße in Empfang genommen. Mit viel Applaus und mit Blumensträußen. Dass es nach frischem Zwiebelkuchen duftet, bekommen die meisten wahrscheinlich gar nicht mit, wenn sie forschen Schrittes das Spalier der zahlreichen Menschen am Straßenrand durchschreiten. Die Wallleute zieht es zum Schlusssegen ins Neumünster, für das Treiben um sie herum haben sie in diesem Moment keinen Sinn.
An diesem Samstag werden auch wieder drei Frauen auf der Straße stehen, vor dem Traditionshotel Stadt Mainz. Sie tun das seit Jahrzehnten am 24. August, dem Rückkehrtag der Wallfahrer. „Das ist immer wieder ein besonderes Erlebnis, dann beten und singen wir mit“, sagen die Schwestern Margarete und Anneliese Schwarzmann, die beiden Hotelinhaberinnen. Sie sind hier im Hotel ihrer Eltern in der Semmelstraße aufgewachsen, doch obwohl sie es sich immer gewünscht hatten, zum Kreuzberg pilgern konnten sie nie. Denn Jahr für Jahr standen in der Wallfahrtswoche die Vorbereitungen für die Zwiebelkirchweih auf der Tagesordnung.
Das hieß: Acht Tage lang Zwiebeln schälen. Denn bis zum 24. August mussten etwa 2000 Stück Zwiebelkuchen fertig sein – per Handarbeit. „Wer von der Schule heim kam, hat Zwiebeln geschält“, erinnert sich Anneliese Schwarzmann: Zu viert oder fünft saß man mehrere Stunden in der Küche beieinander, hat die Zwiebeln enthäutet und „sich Gschichtli erzählt und ganz viel geheult“. Klein gehackt hat die Zwiebeln dann der Vater, „der war so schnell wie später die Maschinen“, weiß Margarete Schwarzmann.
Die Zwiebelkuchen-Tradition ist in etwa so alt wie die Wallfahrt, die anno 1647 zum ersten Mal stattfand. Das hat mehrere Gründe: In den Anfangstagen der Wallfahrt hatten noch viele Bäcker ihre Backstuben und Geschäfte in der Semmelstraße, und außerdem wurden im August die Zwiebeln geerntet und waren somit reichlich vorhanden. In Zeiten großer Armut wollte man die erschöpften Wallfahrtsrückkehrer mit einer Stärkung empfangen. Aus Wasser und Mehl wurde daher ein Teig angerührt, die Zwiebeln kamen oben drauf, und das Ganze wurde im Ofen gebacken. Jeder Bäcker entwickelte im Laufe der Jahre sein eigenes, spezielles Rezept. Für die Wallfahrer gab es den Zwiebelkuchen als Geschenk – eine Tradition, die sich lange hielt.
Die 91-jährige Wilhelmine Schwarzmann, die Mutter von Margarete und Anneliese, weiß noch wie sie als junge Frau die Zwiebelkirchweih erlebte: „Da hat sich alles in der Gaststube abgespielt, da waren auch die Wallfahrer mit dabei. Und es gab als Spezialität frisch gebratene Enten.“ Um die 50 Stück gingen damals über den Tresen. Die Enten wurden vorher am Markt gekauft und mussten erst noch gerupft werden – zusätzlich zum Zwiebelschneiden.
An die Zwiebelkirchweih des Jahres 1937 erinnert sie Wilhelmine Schwarzmann noch ganz genau. Die damals 16-Jährige stand hinter dem Gasthoftresen, als ein junger Soldat namens Karl Schwarzmann das Lokal betrat. Er bestellte sich eine Ente und verspeiste sie, ohne dabei das hübsche junge Mädchen hinter dem Ausschank aus den Augen zu verlieren. Einem Kameraden vertraute er an: „Die heirate ich“. Karl Schwarzmann kam anschließend immer wieder in die Stadt Mainz – und die beiden jungen Leute sich näher. Mit der Hochzeit sollte es aufgrund der Kriegswirren dann allerdings noch bis zum 27. Dezember 1940 dauern.
1953 übernahmen Wilhelmine und Karl Schwarzmann die Stadt Mainz. Die Zwiebelkirchweih verlief viele Jahre nach dem gleichen Muster. Erst Anfang der 1970er Jahre begannen die Geschäftsleute der Semmelstraße draußen Tische und Bänke aufzustellen. Zu der Zeit begann auch der Federweißen-Ausschank. „Die Mengengerli (fränkisch für Pförz, Quatsch) mache wir ned mid“, sagte damals der Wirt, dem das Spektakel suspekt war. Doch auch die Stadt Mainz musste das Treiben wohl oder übel mitmachen. Trotzdem gefällt es Anneliese Schwarzmann und ihrer Schwester so gut wie früher. Zwiebeln schälen müssen die Wirtinnen indes nicht mehr, heute bedient man sich modernerer Methoden und Hilfsmittel.
Aber die Erinnerungen an früher sind noch wach: Beispielsweise an die „Wallwedel“, das waren Tannenzweige für Kinder, die in Handarbeit mit Süßigkeiten behangen wurden. Oder an die „Marodiwagen“: Mit denen wurden Wallfahrer transportiert, die unterwegs schlapp gemacht hatten, also „marode“ waren. Und auch wenn die Zwiebelkirchweih am 24. August deutlich kommerzieller geworden ist – die drei Schwarzmanns freuen sich auch heute noch jedes Jahr auf die Rückkehr der Wallleut.
Sie haben auch nichts gegen die jungen Leute von heute, die nur zum Feiern in die Semmelstraße kommen: „Die erleben dann ja auch, dass es noch andere Werte gibt“, sagt Margarete Schwarzmann und freut sich, wenn sie am Nachmittag die Wallfahrer bei einem der ältesten Würzburger Straßenfeste wieder vor der Türe begrüßen kann.