Die „Familienhäuser“ in der kleinen rumänischen Stadt Lipova haben anheimelnde Namen: sie heißen Sonnenblume, Seerose und Vergissmeinnicht. Kuscheltiere sitzen auf den Betten, Brettspiele liegen in den Regalen, die Wände sind in warmen Farben angemalt, am Eingang eines der Häuser begrüßt ein Clown die Besucher.
Die 27-jährige Rozalia Munteanu ist als Kind nach langem Aufenthalt in einem der berüchtigten rumänischen Waisenhäuser in ein solches Familienhaus gezogen. „Da fing mein Leben eigentlich erst an“, sagt sie und beginnt zu weinen. „Als wir noch im Waisenhaus lebten, hatten wir keine Ahnung davon, was draußen ist.“ Ihre Hand mit den türkisfarbenen Fingernägeln wischt eine Träne weg. „Wir wussten nicht, was Gras ist und was Blätter sind.“
„Wir waren keine Menschen“, ergänzt eine andere junge Frau, „wir waren wie Tiere“.
Die Jungen und Mädchen, die heute in den fünf Familienhäusern in Lipova in der Nähe der Großstadt Arad wohnen, haben keine Angehörigen, die sich um sie kümmern, aber sie scheinen unbeschwert, führen die Gäste durch ihre Zimmer mit den Spielsachen und den Betten mit den bunten Tagesdecken. In der Nähe gibt es ein Tageszentrum, in das sie nach der Schule gehen. Jemand sorgt für sie, rund um die Uhr, und das merkt man ihnen an.
Den jungen Erwachsenen, die noch die berüchtigten Waisenhäuser durchlaufen haben, geht diese Unbeschwertheit ab. Sie haben Nicolae Ceausescus unmenschliche Politik erlebt, die die Jüngeren nur vom Hörensagen kennen, wenn überhaupt.
Acht Männer und Frauen, Sozialwaisen um die 25, sitzen im Halbkreis um einen Tisch, der mit Süßigkeiten überladen ist. Die Besucher aus Deutschland, darunter Thomas Klüpfel, Geschäftsführer des Würzburger Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB), sollen sich wohlfühlen. Gelegentlich wird gelacht. Einer fragt Rozalia, ob sie davon träumt, eines Tages eine Familie zu gründen. „Ja sicher“, sagt sie. „Aber das ist nicht so einfach. Ich suche noch.“ Ein junger Mann aus der Runde hebt die Hand. „Ich bin bereit.“ Wieder befreiendes Gelächter.
Hinter Rozalias vorsichtiger Antwort verbirgt sich die Tragik dieser Menschen, die in den ersten prägenden Lebensjahren nie Kind sein durften, nie Liebe erfuhren, nie eine Familie hatten.
Rozalias Geschichte ist typisch für das Rumänien unter Ceausescu. Der Machthaber wollte, um den Rang seines Landes zu steigern, die Bevölkerungszahl mit allen Mitteln erhöhen. Abtreibungen waren strengstens verboten, ebenso Empfängnisverhütung. Die massenhaft geborenen ungewollten Kinder wurden von ihren Müttern oft in der Klinik zurückgelassen. Rozalia hatte als Baby eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Heute, nach einer Operation, ist das kaum noch zu sehen, aber damals mag es der Grund gewesen sein, dass ihre Eltern sie verstießen. „Sie wollten mich nicht haben“, sagt sie.
Noch schlimmer war das Schicksal jener, die geistige Behinderungen aufwiesen, häufig hervorgerufen durch missglückte Schwangerschaftsabbrüche. Fotos von den verdreckten käfigartigen Unterkünften der „Niemandskinder“ gingen um die Welt und prägen noch heute, wo alles ganz anders ist, das Bild vieler von Rumänien.
Die Situation, die Thomas Klüpfel und andere unterfränkische ASB-Mitglieder vorfanden, als sie 1990 mit dem ersten von vielen Transporten Hilfsgüter nach Rumänien brachten, war prekär. Bei der Begegnung mit Waisenkindern mussten damals selbst ASB-Helfer, die schon viel erlebt hatten, weinen. Die Jungen und Mädchen waren apathisch, für 120 Kinder gab es nur eine Toilette und einen einzigen Kleiderschrank. „Man konnte meinen, dass Sterben würdiger gewesen wäre als das Leben“, erinnert sich Klüpfel.
Schnell war dem studierten Sozialpädagogen klar, dass Hilfe sich auf die konzentrieren musste, die am bedürftigsten waren, die Waisenkinder.
Noch heute macht Lipova einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Vor dem ehemaligen Waisenhaus, dem jetzigen Justizgebäude, gähnt ein Loch, notdürftig mit einem Stoppschild gesichert. Thomas Klüpfel zeigt auf den Eingang: „Da stand im April 1991 Barbara Stamms Auto.“
Als der ASB 1990 Geld aus dem bayerischen Haushalt für die Rumänienhilfe beantragte, machte die damalige Sozialstaatssekretärin die Angelegenheit zu ihrer eigenen Sache. Mehrmals besuchte Stamm als Rumänienbeauftragte der Staatsregierung das Land. Im April 1991 war sie erstmals in Lipova und sah, was in unzähligen ehrenamtlichen Arbeitsstunden die ASBler mit einer Viertelmillion aus München und 30 000 DM an Eigenmitteln geschaffen hatten: ein grundlegend saniertes Waisenhaus, das nun zumindest ansatzweise dem entsprach, was Kinder brauchen.
Im Jahr 1995 kam die große Wende in Rozalia Munteanus Leben, sie zog in eines der neu eingerichteten Kinderhäuser in Lipova und erlebte eine gänzlich andere Welt. „Jeder hatte jetzt seine eigenen Sachen“, erinnert sie sich. „Es gab mehr Ruhe, wir bekamen mehr Aufmerksamkeit als im Heim.“ Nichts davon war für sie selbstverständlich gewesen.
„Es war klar, dass die Renovierung und die Verbesserung der materiellen Verhältnisse in den Heimen auf Dauer nicht reichen würde“, sagt Thomas Klüpfel heute. „Notwendig war eine langfristige konzeptionelle pädagogische Arbeit, die über die Möglichkeiten des ASB hinausging.“ Daher war er froh, als ab 1993 der in Baden-Württemberg beheimatete Verein „Kinderreigen“ und sein rumänischer Ableger „Hora Copiilor“ sogenannte Familienhäuser für die Jungen und Mädchen aus dem Waisenhaus in Lipova schufen.
Bis zum Alter von 14 Jahren leben Mädchen und Jungen hier zusammen in einer familienähnlichen Struktur, betreut von Sozialarbeitern, die vom Kreis Arad bezahlt werden. Den laufenden Betrieb und die Sachausstattung finanziert der Verein Kinderreigen, in dem Thomas Klüpfel acht Jahre lang stellvertretender Vorsitzender war, mit Spenden aus Deutschland. Sein Kontakt zu den Kindern in Lipova ist so nie abgerissen, auch nicht zur rumänischen Leiterin der Familienhäuser, Emilia Gheorgheoiu, der Vorsitzenden von Hora Copiilor.
Die Zahl der zu betreuenden Kinder und jungen Erwachsenen geht in Rumänien ständig zurück. Weil sich die sozialen Verhältnisse verbessern und weil es keinen Druck zum Kindergebären um jeden Preis mehr gibt. Edita Juhasz, von 2000 bis 2014 Chefin des Jugendamts im Kreis Arad, nennt Zahlen: 1996 lebten im Kreis mit seinen 400 000 Einwohnern noch 2880 Jungen und Mädchen in dem was sie „dieses System“ nennt. Heute sind es 550 in Familienhäusern, nicht nur in Lipova, und etwa 200 in Pflegefamilien. „Große Waisenhäuser gibt es in unserem Kreis seit einigen Jahren überhaupt nicht mehr“, sagt sie.
Für psychisch schwer Geschädigte wurde unweit von Lipova ein eigenes Zentrum errichtet, andere profitieren von betreutem Wohnen. Der Staat, noch schwer gebeutelt von der Finanzkrise, ist hier der Träger. Die Kinderärztin Emilia Gheorgheoiu berichtet von beschützenden Werkstätten, wo diese Menschen, die inzwischen Erwachsene sind, arbeiten können. Vieles von dem, was in Deutschland längst selbstverständlich ist, entwickelt sich auch in Rumänien, ohne dass der Westen, der die Bilder der Wendezeit nicht vergisst, den elementaren Wandel zur Kenntnis nimmt.
Rozalia wohnt heute mit zwei anderen jungen Frauen im Haus Calendula. Sie hat Abitur gemacht und Lebensmitteltechnologie studiert, aber keinen Beruf gefunden, der ihrer Ausbildung entspricht. So arbeitet sie in Arad in einer Fabrik, in der Lenkräder und Lenkradverkleidungen hergestellt werden. Sie verdient umgerechnet etwa 250 Euro im Monat, etwas weniger als der rumänische Durchschnittslohn.
Neben Rozalia sitzt der 26-jährige Manuel Leorean. Er ist nach innen gekehrt, lässt tiefe Traurigkeit erahnen. Mit drei Jahren schob ihn die Mutter ins Waisenhaus ab. Er hat 13 Geschwister, Kontakt zur Mutter gibt es kaum. Vielleicht ist es besser so.
Emilia Gheorgheoiu kennt die Hintergründe. „Viele Eltern sind ins Ausland gegangen oder überfordert oder arbeitslos.“ Doch manche nehmen ihr Kind schließlich wieder auf: „Selbst wenn sie vielleicht alle in einem Raum wohnen, sind sie zu Hause. Solche guten Situationen gibt es auch.“
„Unsere Arbeit ist schön und schwer, mit positiven und negativen Erfahrungen“, sagt sie dann noch. „Natürlich gab es nicht nur Erfolgsgeschichten. Manche nehmen Drogen, manche leben nicht mehr, manche sind im Gefängnis gelandet.“ Trotz allem ist sie stolz auf das Projekt und erwähnt Gheorghe Rista, der in einem der Kinderhäuser in Lipova aufwuchs und jetzt eine Zahnarztpraxis in Lemgo eröffnet: „Das ist nicht selbstverständlich, oder?“