Es sind keine guten Neuigkeiten, die der Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Würzburg, Georg Ertl, zwei Tage nach dem Attentat vor rund 30 internationalen Journalisten vor dem Krankenhaus verkündet. Zwei der Zuginsassen schweben noch immer in Lebensgefahr. „Beide brauchen auf absehbare Zeit intensive Betreuung“, sagt der Mediziner.
Demnach sind die beiden chinesischen Männer, der 62-jährige Familienvater und der 30-jährige Freund der Tochter, in ein künstliches Koma versetzt worden. „Man muss die nächsten Tage abwarten, und dann kann man mehr sagen.“ Bei so schweren Verletzungen, wie sie die beiden durch die Axthiebe und Messerstiche unter anderem am Kopf und Bauch erlitten haben, könnten immer Komplikationen auftreten.
Während die Ärzte im Zentrum für Operative Medizin (ZOM) um das Leben der beiden Männer kämpfen, geht es den drei Frauen bereits besser. Sowohl die 51-jährige Spaziergängerin aus Heidingsfeld, die der Täter auf seiner Flucht angriff, als auch die 58-jährige Mutter und die Tochter (26) der chinesischen Familie seien außer Lebensgefahr. Die Tochter wurde mittlerweile ins Klinikum Nürnberg gebracht, die Mutter wird in der Missionsärztlichen Klinik in Würzburg behandelt.
Einer Hochzeitseinladung gefolgt
Das Ehepaar, dessen Tochter und ihr Freund, waren laut chinesischen Medienberichten zur Hochzeit einer anderen Tochter nach England gereist. Auf dem Rückweg besuchte die Familie Rothenburg. Was genau anschließend in der Regionalbahn auf dem Weg nach Würzburg passierte, schilderte eine weitere Tochter der Familie nun der Hongkonger Zeitung „Apple Daily“. Zuerst sei der 17-jährige Angreifer in dem Regionalzug auf den Freund ihrer Schwester losgegangen, sagte die 30-Jährige, die selbst nicht an der Reise nach Europa teilgenommen hatte. „Als meine Mutter und mein Vater das sahen, stellten sie sich in den Weg und wurden dabei verletzt.“ Eine weitere Schwester im Alter von 17 Jahren blieb unverletzt.
Gemeinsam mit einer Delegation aus Hongkong sind die Verwandten am Mittwoch nach Würzburg gekommen, um die Patienten zu besuchen. Cai Hao, stellvertretender chinesischer Generalkonsul in München, betonte, dass seine Regierung das Geschehen in Würzburg genau beobachte. „Wir stehen in Kontakt mit dem bayerischen Innenminister und auch der Bundesregierung.“ Auch Verwaltungschef Leung Chun Ying verurteilte den Angriff. Er äußerte am Dienstag seine „Sorge“ um die Verletzten und sprach den Opfern und deren Familien sein Mitgefühl aus.
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Dass das Interesse an der Tat in Hongkong groß ist, beweisen auch die zahlreichen chinesischen Journalisten, die nach Würzburg gereist sind. Fernsehreporterin Catherine Y.T. Chan ist mit ihrem Team seit Dienstag in der Domstadt. „Die Menschen sind beunruhigt, aber noch wissen wir nicht, ob und warum das Attentat genau dieser Familie gegolten hat“, meint Chan. Die Leute sprächen überall darüber. „Man hat keine Angst, aber wenn einer sagt, dass er nach Europa reist, sagen die Freunde 'Pass auf dich auf'“.
Chinesische Medien verweisen auf islamistischen Hintergrund
Die Medien in Hongkong ordnen das Attentat nicht politisch ein, verweisen aber auf die Herkunft des Täters und den islamistischen Hintergrund, erklärt die Würzburger Sinologie–Professorin Doris Fischer mit Blick auf die aktuelle Nachrichtenlage in China. Die Hongkonger Zeitung „Oriental Daily News“ berichtet etwa von der chinesischen Delegation und dem nach wie vor als kritisch eingestuften Gesundheitszustand der beiden männlichen Opfer. Sie loben die Arbeit der Rettungskräfte. Diese hätten vorbildliche Arbeit geleistet. Thematisiert wird auch, dass die deutschen Behörden verlauten ließen, es gäbe keine Hinweise darauf, dass der Attentäter gezielt auf Asiaten losgegangen sei.
Im „Städtle“ sind die schrecklichen Ereignisse vom Montag noch immer das Tagesgespräch. Besonders mitgenommen ist die Anwohnerin, die die verletzte 51-jährige Heidingsfelderin fand. „Die Bilder dieser Nacht sind in meinem Kopf. Ich werde sie nicht los. Immer und immer wieder gehe ich sie durch.“ Sie ist die Frau, die die Bluttat in Heidingsfeld hautnah miterlebt hat, die das Opfer gefunden hat und die der schwer verletzten Spaziergängerin beistand.
"Er ist gegangen, nicht gerannt"
Sie spricht über das Attentat, möchte aber ihren Namen nicht veröffentlicht wissen. Demnach stand sie am Montagabend auf dem Balkon ihres Hauses in der Winterhäuser Straße und schaute aufs Mainufer, als sie einen jungen, dunkelhaarigen Mann am Garten vorbeigehen sah. „Er ist gegangen, nicht gerannt!“, betont die Zeugin. Dann, kurz darauf: Schreie, sie hörte schreckliche Schreie.
„Da schlägt einer mit dem Beil auf die Nachbarin ein“, habe ihr Sohn gerufen, der im Stockwerk über ihr aus dem Fenster geschaut hatte. Die Anwohnerin wusste, dass die Nachbarin am Abend gewöhnlich mit ihrem Hund in den Mainauen spazieren ging. „Ich habe nicht überlegt. Ich bin hingelaufen zu der Nachbarin“, berichtet sie dieser Redaktion. Sie sagt: „Das hätte doch wohl jeder gemacht.“ Der nicht mehr jungen Frau ist im Nachhinein klar, dass sie sich damit in Gefahr begeben hat. Sie sagt: „Nichts bereitet einen auf eine solche Situation vor. Man handelt einfach.“
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Frau war noch bei Bewusstsein
Während der erwachsene Sohn die Rettung anrief, rannte seine Mutter durch den Garten in die Mainauen. Dort fand sie die 51-jährige Nachbarin blutüberströmt und mit Wunden von Axthieben im Gesicht und an der Seite. Die Frau sei noch bei Bewusstsein gewesen. „Sie hat mich gebeten: ,Kümmere dich um meinen Sohn. Kümmere dich um den Hund'“, berichtet die Anwohnerin. Sie sagt, sie habe Ersthelfer-Kurse besucht und gesehen, dass sie wohl die Wunden der Verletzten besser nicht berühren sollte. „Ich dachte, es wäre am wichtigsten, bei der Nachbarin zu bleiben. Sie bloß nicht alleinzulassen.“
Laut der Anwohnerin kamen Polizei und Rettungskräfte „sehr, sehr schnell“; möglicherweise habe sie nur ein oder zwei Minuten neben der verletzten Frau gesessen, meint die Heidingsfelderin. An dem Abend sei aber für sie die Zeit aus den Fugen geraten; Angaben über genaue Zeiten könne sie nicht machen. Sie erlebte mit, wie sich plötzlich die ganze Straße mit Polizei und Rettungswagen füllte. Dann tat sie, worum sie die Schwerverletzte gebeten hatte; sie verständigte den Sohn der vom Attentäter schwer verletzten Frau. Er sei offenbar derzeit bei der erwachsenen Schwester des Opfers untergebracht.
Weitere Nachbarin: "Es hätte jede von uns treffen können"
Der Anwohnerin zufolge hat eine weitere Nachbarin die Tat ebenfalls miterleben müssen, eine Frau, die ebenfalls ihren Hund ausgeführt hat. „Es hätte jede von uns treffen können, jede“, sagt die Anwohnerin. Sie wird demnächst mit einem Notfallseelsorger sprechen, sie wird diesen Abend noch lange verarbeiten müssen. Für sich hat sie dies gedacht nach diesem Abend: „Dass wir noch mehr darauf schauen müssen, was gut ist in diesem Leben. Dass wir kämpfen für das Gute und Helle.“
Die Anteilnahme in der Region wie auch in Hongkong ist groß. Bei chinesischen Touristen sind Rothenburg und Würzburg beliebte Reiseziele. Johann Kempter, stellvertretender Leiter des Rothenburger Tourismusservice geht davon aus, dass die Familie vermutlich als Tagesbesucher über Rothenburg gereist sei. Chinesische Touristen kommen in Rothenburg hinter den USA, Japan und den Niederlanden an vierter Stelle bei den Übernachtungsgästen. Im vergangenen Jahr registrierte Rothenburg 20 000 Übernachtungen chinesischer Gäste. Beliebte Ziele in chinesischen Reiseführern ist die Romantische Straße. „Das haben die Chinesen von den Japanern übernommen“, sagt Kempter.
„Doch ein einziger unglückseliger Terrorakt eines offensichtlich geistig verwirrten Menschen“ wirke sich in der Tourismusbranche sofort aus. „Wenn in chinesischen Medien die Meinung entsteht, dass es in Europa unsicher ist, werden sofort Reisen abgesagt.“ Der Terrorakt in Brüssel beispielsweise habe sofort auch in Rothenburg die Zahl japanischer Übernachtungsgäste gebremst. Der Würzburger Tourismusdirektor Peter Oettinger zeigte sich betroffen: „Wirtschaftliche Überlegungen dürfen zu diesem Zeitpunkt keine Rolle spielen.
Jetzt geht es allein um die Verletzten und deren Angehörigen – um nichts anderes.“
Derweil ist das Attentat auch ein Thema an der Universität Würzburg. Dort sind fünf Studierende aus Hongkong eingeschrieben. Florian Evenbye, der Leiter des internationalen Studentenbüros der Uni, hat auf Facebook einen Aufruf mit der Bitte an seine chinesischen Studenten veröffentlicht, sich bei ihm zu melden. Von der Partner-Universität Hongkong bekam Evenbye sofort eine Solidaritätsbekundung.