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WÜRZBURG
Würzburgs Baedeker: Wer war Leo Woerl?
Vielfältiges Sortiment: Auch Reiseberichte aus der Ferne verlegte der Würzburger Leo Woerl.
Foto: Thomas Obermeier | Vielfältiges Sortiment: Auch Reiseberichte aus der Ferne verlegte der Würzburger Leo Woerl.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 27.04.2023 07:00 Uhr

Den Reiseführer für Rothenburg ob der Tauber gab es für 50 Pfennig, die Bände für Würzburg, Aschaffenburg und Schweinfurt auch. Das Kissinger Bändchen konnte man auch auf Französisch und Englisch bekommen. Und für die Saison 1886/87 war ein neuer Reiseführer für die Rhön angekündigt. Was für viele Reiselustige heute Baedeker, Dumont, MarcoPolo oder Polyglott sind, das war im 19. Jahrhundert der „Woerl“.

 

Denn kaum eine touristisch interessante Stadt, für die Leo Woerl vor 135 Jahren keinen Reiseführer herausgebracht hätte. Von Aachen und Agram, wie Kroatiens Hauptstadt Zagreb damals mit deutschem Namen hieß, bis Znaim in Südmähren und Zwickau – die Bändchen aus „Woerl?s Reisebücherverlag“ waren der große geschäftliche Erfolg des Verlegers aus Würzburg. Den Führer für Rom bekam man für sechs Mark, den über das „Pharaonenland“ gab es für vier Mark und 50 Pfennig. Wer sich voller Fernweh über Jerusalem informieren wollte, musste zwölf Mark bezahlen.

Als die ersten Reiseführer boomten . . .

Die Europäer hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Reiselust entdeckt. Und mit den handlichen Führern und kleinen Bändchen witterten Buchverleger ein gutes Geschäft. In Koblenz brachte Karl Baedeker in seinem kurz zuvor gegründeten Verlag 1832 sein erstes „Handbuch für Schnellreisende“, die „Rheinreise von Mainz bis Köln“ heraus. Und mit seinem trockenen, prägnanten Sprachstil, der Genauigkeit der Reiseinformationen und der großzügigen Ausstattung mit vielen Karten wurde „der Baedeker“ – im roten Leineneinband, mit goldenem Prägedruck – im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum zum Synonym des Reiseführers schlechthin.

Nicht ganz so opulent, aber praktisch für die Tasche: die beliebten Reiseführer von Leo Woerl. die heute noch in Antiquariaten gehandelt werden. Umso erstaunlicher, dass man über den umtriebigen Würzburger Verleger, der im Juli vor 100 Jahren starb, so wenig weiß. Man findet kein Bild beim Suchen in den Archiven – und wundert sich. „Er ist fast wie ein Phantom“, sagt Dr. Eva Pleticha-Geuder, die Leiterin der Abteilung Fränkische Landeskunde an der Unibibliothek in Würzburg.

Zwischen Kommunalpolitik, katholischer Literatur, Kunst und den „Kannibalen Sumatras“

Was man weiß: Woerl produzierte neben seinen Reiseführern im Taschenformat auch viel katholische Literatur. Er war irgendwann in Würzburg aufgetaucht, engagierte sich in der Kommunalpolitik, wurde Stadtrat, handelte mit Kunst, betrieb ein Vermittlungsbüro für katholische Arbeitnehmer, veröffentlichte die Legende vom Heiligen Kilian in Wort und Bild und das Buch „Besuch bei den Kannibalen Sumatras“, ging Konkurs – und verschwand 1898 plötzlich aus der Domstadt wieder.

Geboren in Freiburg, Lehr- und Wanderjahre in Leipzig, Prag, Wien und Zürich

Verbrieft ist, dass Leo Woerl der Neffe des Besitzers der Herder'schen Verlagsbuchhandlung in Freiburg, Benjamin Herder, war. Am 24. Mai 1843 war Woerl in Freiburg geboren worden, als Sohn des Kartografen Joseph Edmund Woerl und der Maria Herder. Er erlernte bei seinem Onkel von 1858 bis 1862 den Buchhandel, ging auf Wanderschaft, war für Herder zwischen 1863 und 1866 unter anderem in Leipzig, Prag und Wien tätig und lebte – während des Deutschen Krieges zwischen Preußen und Österreich – in der calvinistisch orientierten Schweiz.

. . . und dann nach Würzburg gekommen

Aus welchen Gründen auch immer: Der badische Buchhändler verließ Zürich wieder und gründete in Würzburg sein eigenes Geschäft: „Leo Woerl?sche Buch- und kirchliche Kunstverlagshandlung“, auch „Leo Woerl?sche Buch, Kunst- und Verlagshandlung“ genannt, oder einfach: „Verlag von Leo Woerl“.

Kurz zuvor war in Bayern die Gewerbefreiheit eingeführt worden, sagt Eva Pleticha-Geuder. „Jetzt konnte man sich irgendwo einfach niederlassen.“ Das Würzburger Stadtarchiv verwahrt den großformatigen Reisepass des Großherzogtums Baden, den das Bezirksamt Freiburg anno 1866 auf Antrag Woerls ausgestellt hatte.

Ein Stapel mit Büchern und Bänden aus dem Verlag Leo Woerl. Wer war der Würzburger Geschäftsmann, der im Juli vor 100 Jahren starb?S: Thomas Obermeier
Foto: Foto | Ein Stapel mit Büchern und Bänden aus dem Verlag Leo Woerl. Wer war der Würzburger Geschäftsmann, der im Juli vor 100 Jahren starb?S: Thomas Obermeier

 

1868 zog der Buchhändler mit seiner Familie dann ganz nach Würzburg – so dokumentiert es im Stadtarchiv die Eintragung auf dem „Bürgerblatt“, dem Melderegister der damaligen Zeit. Dieser Einwohnermeldebogen, sagt Stadtarchivar Dr. Axel Metz, ist bemerkenswert, weil „sehr ausführlich“. Alle sieben Orden, die Woerl im Laufe der Jahre erhielt, sind dort feinsäuberlich aufgezählt: Verliehen vom Prinzregenten Luitpold, dem Herzog von Sachsen-Meiningen, dem Großherzog von Baden, dem König von Württemberg . . . und sogar ein päpstlicher. Auf Seite zwei des Bürgerblatts klebt ein undatierter Zeitungsausschnitt: die Meldung über den Konkurs des Verlags.

Gründungsherausgeber des katholischen „Fränkischen Volksblatts“

Doch los ging es für Leo Woerl, der sich „K & K Hofbuchhändler“ nannte, in Würzburg mit Erfolg. Als im Juni 1868 das „Fränkische Volksblatt“ zum ersten Mal erschien, war namentlich als Verleger und Gründungsherausgeber genannt: Leo Woerl. Mehrere Zeitungen hatte es in der Stadt zum damaligen Zeitpunkt schon gegeben, das „Volksblatt“, hinter dem als Gründer der Theologe und Politiker Dr. Johann Baptist Stamminger stand, gab sich jetzt betont katholisch.

Aus den Anfangszeiten der Tageszeitung hat die Universitätsbibliothek zwar keine Exemplare – dafür vom „Hausschatz“, dem belletristischen Beiblatt, das der Zeitung regelmäßig beilag. Aus dem „Volksblatt“ zog sich Woerl allerdings bald zurück, im Jahr 1876 gründete er nochmals eine Zeitung, die „Bavaria“ als „Würzburger Abendblatt“: vier Seiten für vier Pfennig. Daneben verlegte er katholische Literatur über die heilige Familie oder über die „40. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands“ im August 1893 in Würzburg.

„Wahrheit sei Waffe und Wehr“

Woerl muss selbstbewusst gewesen sein. Er führte ein eigenes Wappen, mit Inschrift darin: „Wahrheit sei Waffe und Wehr“. Vor allem aber war er geschäftstüchtig: Er verkaufte – erst im Geschäft in der Langgasse am Marktplatz, dann später in der Oberthürstraße – nebenbei Paramente und Kunst für Kirchen, Kreuzigungsgruppen konnte man bei ihm erwerben und meterhohe Christusfiguren für 120 Mark.

Im handlichen Kleinformat: Mehr als 600 Reisehandbücher aus dem Verlag Leo Woerl

Was man über das Phantom Leo Woerl noch weiß: Seit den 1870er Jahren unterhielt er auch eine Agentur in Wien, in der Spiegelgasse 12. In Würzburg war er von 1882 bis 1891 als Stadtrat kommunalpolitisch aktiv. Und 1878 begann er mit der Herausgabe von Reiseführern, den „Woerl Reisehandbüchern“, von denen allein bis zur Jahrhundertwende über 600 erschienen. Von der Umtriebigkeit des Verlegers, der unternehmerisch auf so vielen Parketten tanzte, zeugen Korrespondenz-Papiere im Stadtarchiv: Woerl schrieb bundesweit Rathäuser an, um mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Er bot an, einen Reiseführer herauszugeben – im Gegenzug sollte die Stadt mindestens 500 Exemplare übernehmen, „zu sehr geringem Minimalpreis“.

 

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Foto: Thomas Obermeier

Die handlichen Kleinformate beschäftigen sich in Deutsch und auf Englisch mit heute noch beliebten Touristenzielen: Frankfurt am Main, Würzburg, Rothenburg ob der Tauber. Auch Neustadt an der Saale oder Dettelbach bei Kitzingen bekamen ihren kleinen Führer.

Eva Pleticha-Geuder: „Die Reisebüchlein waren Woerls Markenzeichen“

„Diese Heftchen sind vielen Lesern nachhaltig in Erinnerung geblieben und wurden bis ins 20. Jahrhundert hinein verlegt“, sagt Eva Pleticha-Geuder. Was er auch sonst so unternahm und tat: „Die Reisebüchlein waren Woerls Markenzeichen.“ Wie es zu der sonderbaren Auswahl der porträtierten Orte kam, lasse sich angesichts der dünnen Quellenlage nur vermuten, sagt Pleticha-Geuder. Sie vermutet, dass Woerl für seine verlegerischen Aktivitäten Sponsoren hatte. Für die katholischen Zeitungen mächtige Katholiken, für seine Reisebüchlein eben die angeschriebenen Gemeinden: „Eigentlich ein ganz modernes Konzept und Geschäftsmodell, das er da hatte: sich für Bücher von den Städten bezahlen zu lassen.“

Und Woerl muss guten Kontakt zu Erzherzog Ludwig Salvator von Österreich-Toskana gehabt haben, sagt die Leiterin Abteilung Fränkische Landeskunde in der Unibibliothek – „auf welchen Wegen auch immer“. Er verlegte nämlich opulent aufgemacht und prachtvoll gebunden zahlreiche Werke und Berichte des reiselustigen Erzherzogs: „Los Angeles in Südcalifornien“ oder „Eine Yacht-Reise an den Küsten von Tripolitanien und Tunesien“.

Vielfältiges Sortiment: Auch Reiseberichte aus der Ferne verlegte der Würzburger Leo Woerl.
Foto: Thomas Obermeier | Vielfältiges Sortiment: Auch Reiseberichte aus der Ferne verlegte der Würzburger Leo Woerl.

 

Der toskanische Habsburgerprinz, der neugierig, umfassend gebildet und sprachbegabt war und als Naturwissenschaftler und Naturschützer, Volkskundler, Zeichner und Schöngeist durch die Welt bummelte, schrieb rund 60 Bücher über die Orte, an denen er länger verweilte. Sein bekanntestes Werk, die zweibändige Volksausgabe von „Die Balearen in Wort und Bild“ erschien in Würzburg bei Leo Woerl . Die Bücher des Erzherzogs gehörten zu den Renommierstücken des Mannes, der eigentlich durch seine Reiseführer bekannt wurde – und sind heute noch begehrte Objekte für bibliophile Sammler.

Dann kam der Konkurs - und der Umzug nach Leipzig

Wirtschaftlich ging es Woerl viele Jahre wohl nicht schlecht, vermutet Eva Pleticha-Geuder. Allerdings blieb ihm der – auch finanzielle – Durchbruch als Verleger verwehrt. Und so kam es zu jener Zeitungsmeldung, die in Woerls „Bürgerblatt“ geklebt ist: „Würzburg, 4. April. Der Konkurs Wörl bildet heute vielfach das Tagesgespräch. Hofbuchhändler L. Wörl, Verleger des extrem patriotischen ,St. Kiliansblattes‘ spielte vor Jahren eine politische Rolle, fand aber später im eigenen Lager sehr viele Gegner und man hörte in den letzten Jahren nur noch wenig von ihm, höchstens bei Besprechung seiner finanziellen Verhältnisse.“

Und weiter heißt es in der kleinen Notiz: „Wörl, der früher auch Magistratsrath war, muß in letzter Zeit wiederholt mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt haben – wenigstens sprach man öfters davon.“

 

 

1896 also hat der Buchhändler und Verleger mehr oder weniger schnell Würzburg verlassen – Richtung Leipzig. Dort, in der zentralen deutschen Buchhandelsstadt damals, ließ sich Woerl mit seiner Familie nieder und verlegte „Woerl's Reisebücher-Verlag“ 1897 dorthin. 1899 erschien bei Woerl die Biografie Ludwig Salvators. Wie es weiter ging? Aus der Leipziger Zeit wisse man noch weniger über sein Leben, sagt Pleticha-Geuder.

Am 1. Juli 1918 starb Leo Woerl in Leipzig. Sein Verlag wurde kurz nach seinem Tod übernommen von Albrecht Seemann. Und bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein wurden noch Woerl-Reiseführer verlegt. Zum Beispiel über „Nürnberg. Die Stadt der Reichsparteitage“.

 
 
 
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