Einen 18-jährigen Studenten aus Würzburg quält im Herbst 1914 nur eine Frage. Wann darf er am ersten Feuergefecht teilnehmen? Sich selbst und allen anderen will er zeigen, wer er wirklich ist. Doch wer ist er wirklich?
Er ist ein Ästhet, den die Natur begeistert. Am 29. November 1914 beschreibt der 18-jährige Würzburger Jura- und Philosophiestudent Richard Rosenburg einen Wintermorgen in Russland: „Das Gold der Sonne, das Blau des Himmels, das mit Silberreif überzogene Dunkelgrün des Nadelwaldes und die makellose Weiße des Feldes verschmelzen zu einer seltenschönen Symphonie der Farben.“
Er ist ein Menschenfreund, den fremdes Leid anrührt. Am 24. Oktober 1914 erschüttert ihn der Anblick eines völlig zerstörten französischen Dorfes: „An den Ecken einige armselige Frauen, uns mit stumpfen Augen teilnahmslos anstarrend. Dort schleicht ein gebückter Alter mit schleppenden Schritten ins nächste Haus. Noch tiefer scheint sich sein Rücken zu krümmen und mit müder Bewegung fährt er mit der Hand übers Auge.“
Doch eigentlich will er ein erbarmungsloser Krieger sein. „Ich freue mich darauf, fürs Vaterland ein paar Feinde zusammenzuschießen“, notiert er am 18. Oktober.
Wer also ist Richard Rosenburg?
Der 18-Jährige stammt aus Frankfurt; im Sommersemester 1914 hat er in Würzburg das Studium aufgenommen. Außer Juravorlesungen belegt er solche über Ethik, Philosophie und Literatur. Rosenburg wird Mitglied der jüdischen Studentenverbindung Salia; auf dem Paukboden übt er die Auseinandersetzung mit dem Degen, bei Wanderungen und feuchtfröhlichen Kneipen wächst er in die Gemeinschaft hinein.
Der Sommer 1914 ist warm und trocken; Rosenburg genießt sein erstes Semester. Auch sein älterer Bruder Albert ist bereits Salier gewesen, er hat von der Atmosphäre in Würzburg geschwärmt und Richard die Entscheidung, ebenfalls in dieser beschaulichen Stadt zu studieren, schmackhaft gemacht.
In der Vorlesung über die deutsche Philosophie seit Kant geht es um dessen Maxime: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Für Richard eröffnet sich eine neue Welt, er hört Dinge, die am Gymnasium in Frankfurt nicht gelehrt wurden. Vielleicht gibt es auch ein Mädchen; dieser schwüle Sommer scheint wie geschaffen für eine Liebelei.
Und doch: Es fehlt etwas, sein Leben erscheint dem 18-jährigen Erstsemester leer, selbstzufrieden, ohne großes Ziel und ohne elementare Herausforderung. „Unsere Seele war tot“, schreibt er später, „denn sie hatte nichts, für das sie leben konnte.“ Wissen, Liebe, Karriere – soll das alles sein?
„Dann kam der Krieg“, fährt er fort, „kam furchtbar wie ein Gewittersturm und fegte hinweg alles was schlecht und klein an uns war. Er machte uns stark und groß, schmiedete uns zu Männern.“
Das will der 18-Jährige sein: ein Mann. Er meldet sich wie viele seiner Verbindungsbrüder als Kriegsfreiwilliger.
Nach kurzer Ausbildung kommt Rosenburg nach Frankreich, wo der deutsche Vormarsch stockt und die ersten Schützengräben ausgehoben werden. Am 27. Oktober steht er im Dorf Fournes-en-Weppes in den Vogesen zum ersten Mal ganz vorne nahe am Feind. Kugeln pfeifen über ihn hinweg, Erde fliegt ihm auf den Kopf. Da ist der ersehnte Moment gekommen, er fühlt sich wie ein richtiger Mann. „Seltsam, man hat so gar kein Angstgefühl“, notiert er in seinem Tagebuch. „Im Gegenteil, übermütige Lustigkeit quillt in mir.“
Drei Wochen später hebt Rosenburg im benachbarten Fromelles einen Graben aus, von hinten werden Kaffee und Essen herangeschafft. „Eben möchte ich fast mit keinem König tauschen“, schreibt der 18-Jährige, „und die Strapazen bekommen mir sehr gut. Schon weil ich das Bewusstsein habe, dass Opfer erforderlich sind und ich sie gerne bringe.“
Als Rosenburg diese Gedanken zu Papier bringt, hoffen die Deutschen noch auf einen schnellen Sieg; dass sie von den Feinden in einen ehrenhaften und unausweichlichen Kampf gezwungen wurden, ist allgemeine Einschätzung. Vaterland, Kaiser, Ehre – das sind Ideale, die einem Leben Größe verleihen.
An seine Verbindung schreibt er einen Feldpostbrief, in dem er schon ganz der abgebrühte Soldat ist, der er werden will. „Unsere Rasttage werden durch Granatfeuer versüßt“, steht da. „Solange mich keines trifft, interessieren mich die Geschosse wenig.“
Doch Rosenburg ist ehrlich zu sich selbst, seine Kriegsbegeisterung ist nicht ohne Vorbehalte. Am Abend des 7. November sitzt er völlig ausgehungert im Graben bei Fromelles, und plötzlich sinkt die „Begeisterung für König, Freiheit, Vaterland arg auf den Nullpunkt“. In diesem Moment ist ihm „alles wurscht und alles zu viel“. So steht es im Tagebuch; nach Würzburg würde er einen solchen Satz niemals schreiben.
Einen kurzen Moment lang wird der 18-Jährige wieder zum Schüler, der mit seinen drei Brüdern und der verwitweten Mutter das Leben genießt. Sehnsüchtig denkt er im Graben an ein Sonntagsfrühstück im Elternhaus zurück: „Die Sonne zeichnet auf dem weißen Fensterkreuz und der rot gesprenkelten Tischdecke helle Kringel. Ich, frisch geduscht, in frischer Wäsche und tadellos angezogen, schlürfe den heißen dunkelbraunen Kakao, das angebräunt knusprige Mohnbrötchen mit der steinharten Butter und braunem würzigem Pflaumenmus streichend. Vor mir die Sportzeitung.“
Kaum hat er diese Gedanken zu Ende gedacht, reißt er sich zusammen. Jetzt ist er Soldat, Träume von knusprigen Mohnbrötchen sind unpassend. „Höchstens ein Sturm würde mir noch Spaß machen“, steht in seinem Tagebuch. „Der kommt einem hier wie die Erfüllung, wie das Ende der Leiden, wie ein krönender Abschluss vor.“ Kurz zuvor hat er geschrieben: „Jetzt bist du Feldsoldat, jetzt kannst du zeigen, wer du bist.“
Der 18-Jährige sehnt die Feuerprobe herbei, das erste Feuergefecht. Er will endlich aus dem Graben heraus, mit den Kameraden die feindlichen Linien stürmen, Mann gegen Mann kämpfen.
Im Mittelalter hat die Feuerprobe zu den Gottesurteilen gehört. Der Angeklagte musste beispielsweise über rot glühende Pflugscharen gehen; blieb er durch göttliche Hilfe unverletzt oder heilten seine Wunden binnen kurzer Zeit, galt er als unschuldig. Auch im Krieg soll die Feuerprobe verdeckte Wahrheiten ans Licht bringen. Wer bist du wirklich? Ein Feigling oder ein Mann?
Doch Rosenburg ist ein viel zu reflektierter Mensch, um den Tod, selbst den „Heldentod“ fürs Vaterland, vorbehaltlos herbeizusehnen. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich falle“, hat er am 15. Oktober nach einem nächtlichen Patrouillengang geschrieben. Da ist „noch so viel in mir Erhaltenswertes – und das alles ausgelöscht. Soviel tausend Einzelvorgänge zu meiner Entwicklung, wie bestimmt von höherer Hand, und alle umsonst – absurd.“
Am 30. November, einem Montag, sind dann alle Vorbehalte wie weggeblasen. Inzwischen ist er mit seiner Einheit an die russische Front verlegt worden. Der Divisionspfarrer hat gepredigt, die Sonne steht hoch am Himmel. „Wir sind scheinbar schon sehr nah an der Front“, notiert Rosenburg. „Schützengraberei gibt’s hoffentlich keine, sondern ,frischfröhliche’ Feldschlacht.“
Am nächsten Tag beschreibt der 18-Jährige seinen ersten Sturm. Es ist eiskalt, die Gegner liegen im Wald gegenüber. „Die Büchsen knallen, die Maschinengewehre rattern, ein Höllenrachen speit seine verderblichen Geschosse aus. Wir liegen ohne Deckung auf dem Bauch.“ Endlich der Befehl: Vor! „Obwohl schon das Stöhnen der Verwundeten ertönt, ist man in dem Geknalle so froh, so ruhig.“ Richard Rosenburg stürmt mit seinem Regiment vor: „Weiter! Immer weiter! Ein Vergnügen so mit aufgepflanztem Seitengewehr den Kerlen an den Leib zu rücken.“ Als es vorbei ist, ist Rosenburg erschöpft und glücklich: Wenn jeder vom selben Geist wie er beseelt wäre, „kann das Vaterland zufrieden sein.“
Er hat die Feuerprobe bestanden.
Vier Tage später: Richard Rosenburg, der Ästhet, Menschenfreund und Krieger, fällt bei seinem zweiten Sturmangriff am 4. Dezember in der Nähe von Lodz.
Er ist einer von 12 000 deutschen Juden, die im Ersten Weltkrieg fallen. Das hindert freilich die Antisemiten nicht daran, den Juden „Drückebergerei“ vorzuwerfen. Richards Opfer, und das der vielen anderen, ist sinnlos gewesen.
Internet: Richard Rosenburgs Tagebuch setzt am 12. Oktober ein. Es wird täglich auf Roland Flades Facebook-Seite „Würzburg vor 70 und 100 Jahren“ ve röffentlicht.