
Luitgard Jany lebt und arbeitet in einem Haus im Wald. Sie erlebt täglich, wie die Entfernung vom Trubel Raum gibt für Gedanken. Schon deshalb ist sie eine Expertin der Stille. Als Psychologin weiß sie außerdem, wie wichtig der zeitweilige Rückzug für die Gesundheit eines Menschen ist.
Als sie an ihrem Buch „Stille für Frauen. Ein Wegweiser zu Kraft und innerer Ruhe“ schrieb, arbeitete sie für sich, als andere noch schliefen. Um 5 Uhr stand sie morgens auf und tippte Erfahrungen aus Jahrzehnten, Erkenntnisse aus Studien und Erzählungen von Frauen, die sie befragte, in den Computer. Trotz der ungestörten Arbeit ging nicht alles glatt. „Ich habe auch mal einen ganzen Papierkorb voll ausgedruckter Blätter weggeworfen“, sagt sie. Doch: „Mein Grundgefühl war das Glücklichsein“, erzählt sie. „Ich war im Flow.“
Sie empfand es als Glück, in aller Ruhe in einer Tätigkeit aufgehen zu können, die sie als sinnvoll empfand. Jany kennt aber auch die dunkle Seite der Stille. In ihre Praxis kommen einsame Frauen, die ihre Zurückgezogenheit als Qual empfinden, aber darüber in der Öffentlichkeit schweigen. Sie kommen, wenn sie ihre Situation nach Trennungen oder Jobverlust nicht mehr ertragen.
Andere kommen, wenn sie sich in Familie oder Beruf überfordert, unkonzentriert, ständig im Rennen fühlen. Sie sind von einer inneren Unruhe geplagt und sehnen sich nach Gelassenheit. „Ich liebe die Stille schon immer“, sagt die 65-Jährige. „Inzwischen ist mir klar, dass ich sie verteidigen muss.“ Dazu gehört auch, ihre strahlenden und ihre schattigen Seiten miteinander zu versöhnen, ihre Vielschichtigkeit zu sehen und ihre Spannung zu ertragen. Und auszuhalten, dass das Phänomen „Stille“ schwer zu fassen ist.
Bei lauter Musik und zusammen mit vielen Menschen kann man Ruhe empfinden ebenso wie Einsamkeit. Waldesstille kann aufatmen lassen oder aber ängstigen. Das düstere Gesicht der Stille erinnert uns unbewusst an die ewige Totenstille. „Unsere größte Herausforderung ist die eigene Sterblichkeit“, erlebte Jany hautnah, als sie eine Zeit lang in einem Hospiz arbeitete. „Wir denken immer noch, wir könnten alles machen und alles beeinflussen.“ Dieser Irrtum beunruhigt uns, wenn etwa beim Meditieren oder Einschlafen die äußeren Ablenkungen schweigen und die Gedanken zu kreisen beginnen.
Jany gefällt die Philosophie der griechischen Stoiker. „Wenn wir den Tod ins Leben integrieren, leben wir freier und glücklicher“, war deren Haltung. Wie sich das Gegenteil im Alltag auswirkt, zeigen zunehmende Krankheitstage wegen psychischer Belastungen im Arbeitsleben. Ständiges Urteilen und Beurteilt-Werden sowie wachsende Kontrolle setzten den Menschen zu, sagt Luitgard Jany. Je lauter Welt- und Marktgeschehen sind, desto unruhiger suchten Unternehmen nach Möglichkeiten, die Sache im Griff zu behalten. „Aber ich bin zuversichtlich“, sagt Jany. Mancherorts gebe es schon den Büroschlaf als entspannte Möglichkeit, in Ruhe aufzutanken.
„Und Menschen wehren sich langsam gegen Kontrolle und damit im Grunde dagegen, ausgenutzt zu werden“, beobachtet die Psychologin. Denn der Wille, selbstbestimmt und gut zu leben, setze sich durch. Als sie sich für ihr Buch mit der Stille befasste, hatte Luitgard Jany das Bild von feinem, weißen Sand vor Augen, erzählt sie. „Es ist wunderbar, ihn zu berühren. Mit den Händen durch den Sand zu fahren, sich in ihn hineinzuwühlen.“ Doch er verrinnt zwischen den Fingern.
Ähnlich wohltuend lässt sich Stille erleben, aber nicht wirklich fassen. Jeder Mensch hat ein eigenes Gefühl dafür. Entscheidend dafür, wie, wo und wann wir Stille empfinden, ist, wie wir mit den Reizen, Zumutungen und Manipulationen im Alltag umgehen. Können wir warten, entscheiden und verzichten? Können wir erkennen, dass wir manchmal zu viel kontrollieren wollen? Überlasten wir uns durch zu hohe Anforderungen? Können wir Grenzen erkennen und deutlich machen? Und: Gönnen wir uns die Zeit zuzuhören? Damit sind wir bei dem Aspekt der Stille, der weit über den einzelnen Menschen hinaus reicht.
Sich Ruhe zu gönnen habe nämlich eine ganz essenzielle Bedeutung für die Entwicklung der Gesellschaft, sagt Jany. Zunächst gehe es einfach darum, Kraft zu schöpfen für die Aufgaben in Familie, Beruf und Gesellschaft. Und dann gehe es um die größeren Zusammenhänge. Denn auch ob ein Staatsgebilde funktioniere, habe ganz viel mit dem ruhigen Hinhören zu tun. „Und das vermisse ich im Moment in der politischen Welt“, sagt Jany. Wer nicht höre und nur sende, wisse nicht, was den anderen bewegt, könne nicht entscheiden, aber auch nicht kritisieren. Erst wenn Menschen anderen entspannt zuhören, die eigenen Gedanken von ihnen erschüttern lassen könnten, entstehe Neues.

„Fühlt sie sich abgelehnt, gezwungen, ausgeschlossen oder rein nach Gesichtspunkten der Rentabilität behandelt, wird sie ihre Gaben nicht verteilen.“ Ein Satz aus dem Buch, der einiges darüber sagt, wie Jany die Stille betrachtet: Als eine starke Verbündete, die Gaben zu verteilen hat, die sich aber nicht vereinnahmen lässt von Selbstoptimierern und solchen, die sie als Element zur Steigerung der Produktivität anderer nutzen wollen. Jany lässt Frauen von der Jugend bis zum Alter mit ihren Erfahrungen zu Wort kommen. Sie betrachtet die Bedeutung der Stille für Frauen in der Geschichte vom antiken Mythos bis zu den mittelalterlichen Mystikerinnen und gibt Anregungen, wie mehr Ruhe ins Leben zu bringen ist.
Ab und zu geht es auch um Männer. Und so, wie Lany über die Stille spricht, ist sie auch beileibe nicht nur ein Thema für Frauen. Ideal sei, wenn die Stille ganz selbstverständlich ein Teil unseres Alltags ist, überlegt die Psychologin. Das zu erreichen, ist nicht immer einfach. Zu sehr lassen wir uns oft von außen bestimmen.
Luitgard Jany zumindest hat einen Ort, der ihr die Stille gibt, bei sich selbst zu sein: Den Wald, der sie täglich umgibt.
Buchtipp: „Stille für Frauen. Ein Wegweiser zu Kraft und innerer Ruhe“ von Luitgard Jany, erschienen im Elisabeth Sandmann Verlag München 2019, 152 Seiten, 22 Euro.