Fastfood an jeder Ecke, überzuckerte Getränke – kombiniert mit immer weniger Bewegung und immer mehr Medienkonsum: Während der Corona-Pandemie ist jedes sechste Kind in Deutschland dicker geworden, bei den Zehn- bis Zwölfjährigen sogar fast jedes dritte. Das zeigt eine repräsentative Umfrage bei etwa 1000 Eltern im Auftrag der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG) und des Else Kröner-Fresenius-Zentrums (EKFZ) für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München. Der Umfrage zufolge bewegt sich außerdem fast die Hälfte der Kinder (44 Prozent) weniger als zuvor, dafür hat die Mediennutzung bei 70 Prozent zugenommen.
Experten zeigen sich besorgt. Schon vor der Corona-Pandemie waren in Deutschland etwa 15 Prozent der Kinder übergewichtig, 6 Prozent galten als adipös. Warum werden die Kinder immer dicker? Ab wann gilt ein Kind als übergewichtig? Und was können Eltern tun? Dr. Katrin Ergezinger, Oberärztin an der Uni-Kinderklinik in Würzburg, erklärt und Leiterin der Endokrinologischen Ambulanz, betreut unter anderem Kinder und Jugendliche mit schwerem Übergewicht und mit Folgeerkrankungen. Sie erklärt das Problem - und hat Tipps.
Dr. Katrin Ergezinger: Unsere Kinder und Jugendlichen wachsen unter Lebensbedingungen auf, die Übergewicht fördern: Insgesamt hat sich ihr Freizeitverhalten verändert, weniger körperliche Aktivität und mehr Medienkonsums. Man weiß, dass mit jeder Stunde mehr Fernsehen oder Computerspielen das Gewicht bei Kindern steigt. Werbung in Internet und Fernsehen für ungesunde Produkte sind gezielt an Kinder gerichtet und beeinflussen ihr Essverhalten stark. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der überhöhten Zufuhr von Zucker – vor allem über Softgetränke – und Übergewicht bei Kindern. Besonders für Kinder mit einer genetischen Veranlagung zum Übergewicht ist es so schwer, gesund und schlank zu bleiben.
Ergezinger: Der Body-Mass-Index wird weltweit zur Definition und Einteilung in Schweregrade angewandt. Für die Beurteilung des BMI im Kindesalter liegen alters- und geschlechtsbezogene Referenzwerte vor. Kinder über der 90. Perzentile gelten als übergewichtig. Kinder mit einem BMI über der 97. Perzentile gelten als adipös, oberhalb der 99,5. Perzentile als extrem adipös.
Ergezinger: Hier kommt den Kinderärzten eine ganz wesentliche Rolle zu, weil sie die Kinder ja regelmäßig zu den Vorsorge-Untersuchungen sehen. Dort werden auch Größe, Gewicht und BMI dokumentiert und interpretiert. Meist entwickelt sich das Übergewicht schon im Kleinkindalter. Ziel ist es, Eltern und Kinder früh zu erreichen, um einer weiteren Gewichtszunahme gemeinsam entgegen zu wirken. Prävention ist hier das A und O, da adipöse Kindern auch häufig im Erwachsenenalter adipös sind und unter Folgeerkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck leiden.
Ergezinger: Der erste Pfeiler ist eine Ernährungsumstellung, wobei sich die Empfehlungen für die Zusammensetzung der Ernährung in der sogenannten "optimierten Mischkost" für normalgewichtige und adipöse Kinder gar nicht unterscheidet. Beim zweiten Pfeiler geht es um eine allgemeine Verhaltens- und Lebensstilumstellung. Hier können Eltern positive Beispiele sein, neben einer gesunden und ausgewogenen Ernährung auch Bewegung und Sport vorleben und auch den eigenen Medienkonsum hinterfragen. Wichtig ist, mehr Bewegung in den Alltag zu bringen, am besten zusammen mit Freunden oder Familie.
Ergezinger: Während der Pandemie haben sich die Lebensbedingungen der Kinder stark verändert. Im Lockdown fehlte der strukturierte Alltag. Viele Kinder haben sich so einen neuen Lebensstil angewöhnt: Sie sind nicht mehr zur Schule geradelt oder gelaufen, konnten nicht mehr Sport im Verein machen, sie haben stattdessen mehr Zeit mit elektronischen Medien verbracht, mehr Süßigkeiten und Knabberartikel gegessen und weniger geschlafen. Dieses Gesundheitsverhalten hat sich bei vielen Kindern und Jugendlichen nun verfestigt. Das hat zu einer weiteren Gewichtszunahme geführt. Und zwar insbesondere von Kindern, die schon vor der Pandemie von Übergewicht betroffen waren und von Kindern aus einkommensschwachen Familien. Man kann auch sagen, dass die Corona-Pandemie die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland weiter verschärft hat.
Ergezinger: Kinder sollen langfristig ihr Verhalten und ihre Ernährung umstellen, aber keine spezielle Diät machen. Viel in kurzer Zeit abzunehmen ist eher kontraproduktiv, da es zum sogenannten Jojo-Effekt kommen kann mit einer größeren Gewichtszunahme als vor der Diät. Teilweise ist es schon ausreichend, wenn Kinder ihr Gewicht halten und somit aus dem Übergewicht "herauswachsen".
Ergezinger: Auch die Psyche kann unter den Pfunden leiden. Denn teilweise werden stark übergewichtige Kinder auch ausgegrenzt oder sogar gemobbt. Das kann bei den Kindern zu mangelndem Selbstbewusstsein, Scham und sogar zu Depressionen und Essstörungen führen. Kinder und Jugendliche müssen daher auch psychisch gestärkt werden. Ihnen und ihrer Umwelt muss vermittelt werden, dass Adipositas eine Erkrankung ist und nicht auf Willensschwäche beruht.
Ergezinger: Um der wachsenden Zahl von adipösen Kindern gerecht zu werden, müsste es viel mehr Hilfsangebote geben. In Würzburg haben wir die glückliche Situation, dass das Ambulante Schulungszentrum Würzburg zertifizierte Adipositas-Schulungen für Kinder und Jugendliche sowie für ihre Familien anbietet. Die Schulungen finden ein Jahr lang einmal in der Woche statt. Teilweise können Angebote der Krankenkassen genutzt werden, zum Beispiel zur Ernährungsberatung. Auch einige Reha-Kliniken sind auf die Betreuung adipöser Kinder und Jugendlicher spezialisiert.
Ergezinger: Übergewicht ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es braucht eine gemeinsame Anstrengung, die Lebenswelten von Kindern gesund zu gestalten. Hier sehen wir Kinderärzte auch die Politik in der Pflicht, zum Beispiel eine Zuckersteuer und ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel einzuführen. Wichtig wären auch mehr Bildungs-, Freizeit- und Bewegungsangebote für alle Kinder, besonders für die aus sozial schwächeren Familien.